Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Keksen. Die Kekse werden weich im Nieselregen. Wir essen die Kekse und die Schokolade auf. Dann nehmen wir den Bus zurück in die Stadt.
6
Meine Mutter steht im Wohnzimmer vor dem Fenster. Sie guckt in den Garten. Sie guckt die Lärmschutzmauer an. Sie hat nicht gehört, dass ich ins Wohnzimmer gekommen bin. Sie hört Musik, sie hat eine Schallplatte laufen. Diese Musik macht mich unruhig. Was soll das denn für Musik sein. Sie hört sich an, wie ich mich fühle, wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin und noch einmal aufschrecke. Sie hört sich an, wie ich mich gefühlt habe, als ich im Krankenhaus einmal eine Vollnarkose bekommen habe. Bevor ich eingeschlafen bin. So zwischen allem. Ein Sänger singt mit einer hohen Stimme. Die Stimme ist so hoch, dass sie bricht. So dünn ist sie. Meine Mutter schaut in den Garten. Ein Spatz hockt auf dem Meisenring, den ich an den Kirschbaum gehängt habe. Ich glaube nicht, dass meine Mutter den Spatz anguckt.
Ich möchte kein Stein in der Mauer sein, sagt sie. Ich möchte kein Stein in der Mauer sein, sagt meine Mutter. Sie sagt es mit einer Stimme, die nicht die Stimme meiner Mutter ist. Ich verstehe nicht, was es bedeutet. Ich will es nicht verstehen. Die Hülle von der Schallplatte liegt auf dem Sofa. Sie ist weiß mit grauen Linien, die die Fugen einer weißen Mauer sind. So eine Scheißschallplatte.
Ich möchte kein Stein in der Mauer sein, sagt meine Mutter. Der Spatz wippt auf dem Meisenknödel.
7
Das Telefon klingelt. Meine Mutter ist unten im Wohnzimmer und hört Musik. Ich bin oben in meinem Zimmer. Das Telefon klingelt. Es klingelt unten im Flur. Meine Mutter hat es viel näher zum Telefon.
Jonas Fink, sage ich in den Hörer.
Ja, hallo, hier ist der Volker, sagt eine Männerstimme. Die Stimme klingt wie die von Udo Lindenberg. Ist die Dorothea da?
Dorothea ist der Name meiner Mutter. Ich sage niemals Dorothea zu meiner Mutter. Ich sage Mama zu meiner Mutter. Ich mag es nicht, wenn jemand meine Mutter Dorothea nennt. Ich mag es nicht, wenn Udo Lindenberg für meine Mutter anruft. Einen Moment, bitte, sage ich zu Udo Lindenberg. Ich klopfe an die Wohnzimmertür. Ich sage: Mama, da ist ein gewisser Volker am Telefon.
8
Was hörst du?, frage ich. Dirk und ich stehen im Bus mit unseren Ranzen auf den Rücken. Die Scheiben sind beschlagen. Man könnte seine Anfangsbuchstaben oder ein Gesicht auf die Scheibe malen. Dirk hat einen Walkman auf den Ohren. Der Schaumstoff von den Kopfhörern ist orange. Dirk singt in einer Sprache mit, die ich nicht verstehe. Ich glaube, es soll Englisch sein.
Was hörst du?, frage ich. Dirk hebt den Kopfhörer auf einer Seite an. Was ist das für Musik?
Das ist eine Kassette, die mir René überspielt hat, sagt Dirk. Das ist Hard Rock.
Ich kenne René. René ist der mit der Jeansweste mit den Aufnähern darauf. Er geht in die Parallelklasse. Er ist ein Jahr älter als ich. Dirk und ich gehen in dieselbe Klasse. Dirk hat mich nicht zu seinem Geburtstag eingeladen. In der Pausenhalle stehen sie zusammen und reden über Musik. Und sie wohnen beieinander. Dirk bewegt den Kopf auf und ab. Er verzieht das Gesicht dabei. Ich glaube, er macht ein Hard-Rock-Gesicht.
Lass mich auch mal hören, sage ich. Dirk gibt mir den Kopfhörer. Es hardrockt in meine Ohren. Der Bus ist nach wie vor der Bus, und die Scheiben sind nach wie vor beschlagen. Trotzdem ist der Bus auf einmal ein Hard-Rock-Bus. Und die Fahrgäste sind Hard-Rock-Fahrgäste. Dirk will seinen Kopfhörer zurück.
Kannst du mir die Kassette auch überspielen?, frage ich.
Mal sehen, sagt Dirk.
9
Ich schließe die Haustür auf. Ich habe einen Schlüsselbund an der Hose. Mit meinem Fahrradschlüssel und dem zu meiner Spardose und noch ein paar anderen Schlüsseln daran, die ich gefunden habe, und einem Fuchsschwanz, den ich auf dem Jahrmarkt gewonnen habe. Ich stelle meinen Ranzen auf die Treppe. Es riecht nicht nach Essen im Haus. Meine Mutter ist nicht in der Küche. Mama, rufe ich.
Ich gehe die Treppe hoch. Meine Mutter steht im Badezimmer vor dem Spiegel. Meine Mutter schminkt sich. Meine Mutter schminkt sich sonst nie. Sie steht dicht vor dem Badezimmerspiegel und trägt Wimperntusche auf. Es riecht nach Parfüm.
Oh, du bist zu Hause, sagt sie. Ich habe dich gar nicht kommen gehört.
Ich sage nichts. Ich sehe sie an. Ihre Lippen sind rot. Sie weiß, dass ich um halb zwei nach Hause komme. Ihre Wangen sind auch rot. Ihre Augen sind schwarz umrandet. Sie sieht
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