Goldener Reiter: Roman (German Edition)
ich.
Meine Mutter schaut mich an. Deine Großmutter ist eine böse Frau, sagt sie. Eine sehr, sehr böse Frau.
Ist sie nicht, sage ich.
Meine Großmutter ist eine sehr, sehr alte Frau. Sie bringt uns Geschenke mit, wenn sie uns besucht. Als ich klein war, bin ich mit ihr Karussell gefahren. Ich sage Großmutter zu Großmutter. Ich habe noch eine Großmutter, zu der ich Oma sage. Sie wohnt in der DDR und ist die Mutter meiner Mutter.
Ich stehe auf der Treppe. Meine Mutter sitzt auf der Treppe. Sie macht ihre Zigarette aus. Komm, sagt sie.
Sie bringt mich ins Bett, wie sie es früher gemacht hat. Meine Mutter deckt mich zu. Schlaf schön, sagt sie. Ich liege in meinem Bett. Ich schaue den Kirschbaumschatten an den Wänden zu, wie sie tanzen, auf und ab. Meine Mutter geht die Treppe hinunter. Ich höre, wie sie den Hörer von der Gabel nimmt.
15
Ich habe keine Lust mehr, Playmobil zu spielen, sagt Mark. Mark ist bei mir zu Besuch. Wir haben Playmobil-Soldaten bemalt. Es gibt jetzt Playmobil-Männchen, die einfach weiß sind. Man kann sie bemalen mit speziellen Filzstiften, dann ist die Farbe nicht mehr abwaschbar. Wir sitzen auf dem Teppichboden mitten in einer ausgedachten Armee.
Okay, dann lass uns etwas anderes spielen, sage ich.
Ich glaube, ich möchte lieber nach Hause, sagt Mark.
Mark hat sich Bücher über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg aus der Bücherhalle ausgeliehen. Da sind Schlachten beschrieben und es gibt Bilder von Flugzeugen, Kriegsschiffen und U-Booten. Mark will immer nur lesen.
Im Garten liegt ein toter Igel, sage ich.
Bei euch im Garten?, fragt Mark.
Ja, sage ich. Wir können ihn begraben.
Okay, sagt Mark.
Wir wählen die Grabbeigaben aus, einen Indianerkopfschmuck, ein altes Auto und ein paar Münzen aus Kanada. Auf einer Münze ist ein Biber abgebildet. Wir gehen die Treppe hinunter. Ich hole einen Schuhkarton und eine Plastiktüte aus dem Keller. Mark hält die Grabbeigaben. Mit den Sachen gehen wir in den Garten.
Wir gucken uns den toten Igel an, der im hinteren Teil auf dem Rasen liegt. Der Igel hat die Augen offen. Er liegt auf der Seite. Mark kniet sich hin und stupst den Igel mit der Hand an. Tote Tiere sind voll Leichengift, sage ich.
Mark nimmt einen Zweig und rollt den Igel auf den Rücken. Auf dem Bauch sind keine Stacheln. Der Bauch von dem Igel ist aus Fell. Ich gucke mir die Pfoten an.
Ich denke: Tote Tiere sind keine richtigen Tiere mehr.
Der ist verhungert, sagt Mark. Der hat vor dem Winterschlaf nicht genug gegessen und ist vor Hunger aufgewacht und aus seinem Versteck gekommen. Er hat nichts mehr zu fressen gefunden. Igel machen ihren Winterschlaf in Laubhaufen.
Hier sind keine Laubhaufen, sage ich. Unsere Nachbarin harkt im Herbst immer das ganze Laub zusammen und verbrennt es.
Hm, macht Mark.
Vielleicht hatte er eine Krankheit, sage ich.
Hm, macht Mark. Er reibt seine Hand an der Hose.
Wir legen den Igel in den Schuhkarton. Wir legen die Grabbeigaben auf den Igel. Ich fasse die Stacheln von dem Igel an. Sie sind fest und stumpf, sie piken überhaupt nicht.
Wir stecken den Schuhkarton in die Plastiktüte, damit der Igel vor der Nässe im Boden geschützt ist. Ich stelle mir vor, wie aus dem Igel ein Igelskelett wird.
Wo wollen wir ihn begraben?, fragt Mark. Ich blicke mich um.
Hinter den Tannen, sage ich.
Im hinteren Teil des Gartens wachsen Tannen. Damit man die Lärmschutzmauer vom Wohnzimmer aus nicht sieht. Man kann die Lärmschutzmauer trotzdem sehen. Zwischen den Tannen und der Lärmschutzmauer ist noch Platz. Als ich klein war, bin ich dort umhergeschlichen. Wir brauchen einen Spaten, sagt Mark.
Hinter den Tannen ist der Boden voller Nadeln und Zweige. Wir kratzen mit dem Spaten den Boden frei. Wir schaufeln ein schuhkartongroßes Loch. Wir schwitzen in unseren Anoraks, weil die Erde voller Wurzeln ist. Wir legen den Schuhkarton in das offene Grab. Wir stehen da und denken an den Igel, obwohl wir ihn gar nicht gekannt haben.
Mark schaufelt das Grab zu. Tschüs, sagt er.
Tschüs, Igel, sage ich und trete die Erde platt. Aber ich bin nicht richtig traurig.
16
Das Telefon klingelt. Ich bin allein zu Hause. Ich bin aus der Schule gekommen und habe mich auf die Toilette gesetzt. Ich habe den Stern gelesen. Das mache ich immer, wenn der Stern neu ist. Ich sitze auf der Toilette und lese, bis mir die Beine eingeschlafen sind. Ich habe keine Ahnung, wo meine Mutter ist. Ich will es nicht wissen. Sie ist nicht zu Hause. Ich bin allein
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