Goldfalke (German Edition)
Großwesir setzte den kleinen Dschinn wieder auf Kianas Knie. „Was genau hast du in dem Mosaik gesehen, meine Tochter?“
Eingeschüchtert von seinem Interesse beschrieb Kiana es ihm. Nicht nur er und Ava, sondern alle im Saal hörten aufmerksam zu. Und die, die außer Hörweite saßen, ließen es sich von den anderen zurufen.
Ava legte einen Finger an ihr Kinn. „Das Küken in dem Ei kann tatsächlich deinen Dschinn symbolisieren, Kiana. Und die tanzenden Menschen bedeuteten sicher die Freude aller hier über deine Ankunft. Ja, das erscheint mir einleuchtend.“
Kianas Gegenfrage quoll aus ihr heraus, noch ehe sie sich ins Bewusstsein rufen konnte, dass es für sie wohl kaum angebracht war, die Worte der Haushofmeisterin in Zweifel zu ziehen: „Aber warum sollte irgendjemand das große Mosaik in der Eingangshalle ausgerechnet nach mir oder meinem Dschinn gestalten?“ Die zweite Frage, wie jemand so schnell ein fest in den Boden eingelassenes Mosaik umbauen konnte, stellte sie nicht. Ihr Empfinden, was möglich war und was nicht, hatte sich in den letzten Stunden stark geändert.
Ava lächelte sie über Nesrins Kopf hinweg an: „ Das hat nicht irgendjemand getan, sondern der Palast selbst. Und warum sollte er seinen Gefühlen nicht Ausdruck verleihen, zumal du offenbar zu den wenigen gehörst, die sie lesen können.“
Kiana verstand nicht: „Der Palast selbst?“
Die Augen der Haushofmeisterin verströmten Weisheit wie ein warmes Licht. „Der Palast drückt damit aus, dass er dein Hiersein gutheißt und dass er bereit ist, dich bei deinem Vorhaben zu unterstützen. Wie wir alle, sofern es uns möglich ist.“
Für einen Moment gelang es Kiana, die Vorstellung von einem Gebäude, das etwas gutheißt, beiseite zu schieben. „Das ist sehr freundlich von euch allen und … dem Palast. Auch wenn ich nicht mal genau weiß, was es eigentlich ist, das ihr alle von mir erwartet.“
„Deine Mutter zu finden natürlich. “ Unbekümmert schnippte Nesrin eine ihrer Locken nach hinten. „Das hat Fatima doch gesagt, oder?“
Kiana atmete zittrig ein. „ Ich weiß doch nicht, wohin meine Mutter verschwunden ist. Wie kann ich sie denn finden, wenn nicht mal ihr es könnt?“
„Das wird uns Sahmaran schon sagen, schätze ich“, antwortete Nesrin. „Dazu sollst du sie ja besuchen.“
Mit Bedacht stellte der Großwesir seine Teetasse zurück auf den Untersetzer und blickte Kiana an. „Töchterchen, dass alles im Palast, in den Palastgärten, Äckern, Teichen, Brunnen, Weiden und Stallungen lebt, sprudelt und gedeiht, ist an die Lebenskraft der Herrscherin gebunden. Wie du gesehen hast, hat sie diese Aufgabe über die Jahre hinweg sehr erschöpft. Früher hat deine Mutter diese Kräfte immer wieder hergestellt, denn das ist ihre besondere magische Gabe gewesen, wie du sicher weißt, nicht wahr?“
„Das …“, Kiana schluckte, „ … wusste ich nicht.“
Verwundert hoben sich Sayeds weiße Auge nbrauen. „Nicht?“
„Ich weiß nichts über meine Mu tter.“ Beschämt senkte Kiana ihren Blick. „Zumindest nichts … Gutes.“
„W ie das?“, rief Miro, der Ausschreier, der aus dem Nichts, wie es schien, herbeigeflattert kam und sich auf dem Kopf eines kniehohen marmornen Elefanten niederließ. Das Kunstwerk schmückte zusammen mit weiteren Statuen und Bodenvasen die Zwischenräume zwischen den hohen Glasfenstern, welche die gesamte linke Front des Saales beherrschten.
„Was hat man dir über deine Mutter erzählt?“ Der Tonfall der Haushofmeisterin wurde genauso lauernd wie das Starren des Geiers.
In Kiana spreizte sich das Bedürfnis, einfach alles wie bisher totzuschweigen, gegen ihren Respekt vor diesen freundlichen Palastbewohnern, der es ihr unmöglich machte, Avas Frage mit Schweigen zu missachten. Zugleich war ihr nur zu deutlich bewusst, dass sie, egal, ob sie die Wahrheit gestand oder die Antwort verweigerte, in jedem Fall einen schlechten Eindruck hinterlassen würde.
Einen s ehr schlechten.
Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Prinz Farid herein. Er setzte sich abseits von den anderen im Halbschatten einer Säule nieder und ließ sich Tee servieren. Kiana spürte förmlich, wie sein durchdringender Blick auf ihr haftete wie heißes Wachs. Seine Anwesenheit gab der Peinlichkeit, in der sich Kiana wand, eine stechende Note.
„E rzähle!“, krächzte Miro. „Was redet die Trübe Welt über die schöne Elina?“
Weil sich Kiana sicher war, dass vor allem die kluge
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