Goldfalke (German Edition)
gleich hier.
Die trübe Stimmung ringsum machte selbst die sonst so quirlige Nesrin mürrisch. Fluchend rieb sie ihren Fußballen, nachdem sie in ihren gelben Seidenschühchen auf einen spitzen Stein getreten war.
E ndlich blieb Baski stehen und setzte sich auf einen melonengroßen Gesteinsbrocken. Auch seine Herrin hielt an. Beide schauten erwartungsvoll auf Kiana, bis Nesrin auf den Boden deutete. „Welcher dieser armen Dschinns ist deiner?“
Kiana hob fragend die Handflächen. „Woher soll ich das wissen?“
„Dein Gefühl s ollte es dir sagen. Fühlst du denn nichts?“
D och, Kiana fühlte etwas: Zweifel, Beklommenheit, Hilflosigkeit.
Hilflosigkeit gegenüber der selbstsicheren, hübschen, besserwisserischen Nesrin und den anderen Palastbewohnern, die alle so locker mit fliegenden Teppichen, Dschinns, sprechenden Geiern und anderen Merkwürdigkeiten umgingen, so dass sich Kiana noch minderwertiger vorkam als sowieso schon.
Kiana fühlte sich so erbärmlich hilflos wie jede dieser Kreaturen hier, die gestrandet wirkten wie Abfall in einem ausgetrockneten Flussbett. Ja, sie fühlte sich genauso schwach wie dieses Würmchen, das da auf sie zu kroch.
Genau wie dieses Würmchen.
Sie hob es auf. Onkel Abdullah würde so etwas ohne zu zögern unter seiner Schuhsohle zertreten. Es war so groß wie ihr Daumen, unförmig wie ein Klümpchen Brotteig und besaß nichts außer zwei Fußstümpfen und zwei knopfartigen Augen. Ausdruckslosen, blinden Augen. Sachte schloss Kiana ihre Finger darum, bildete mit ihrer Hand eine schützende Höhle für dieses kleine Wesen. Es regte sich. Fast schien es, als würde es sich gegen Kianas Finger kuscheln.
Diese Vertrautheit, die sie auf einmal spürte - wie war so etwas möglich? Selbst im Vergleich mit den anderen wurmähnlichen Wesen war es ein besonders hässliches Exemplar. Aber für nichts auf der Welt würde Kiana es wieder hergeben. Und plötzlich erkannte sie mit einer erstaunlichen Gewissheit, dass das ihr Dschinn war. Und zum ersten Mal in ihrem Leben traf sie eine Entscheidung: Sie würde dieses kleine Tierchen beschützen. Koste es, was es wolle.
Nesrin schluckte würgend. „Jetzt nichts wie weg hier!“ Man konnte ihr ansehen, dass sie sich angestrengt eine Bemerkung über Kianas Dschinn verkniff.
Als beide viel später und viel erschöpfter den Brunnenschacht wieder hochstiegen, hatte Kiana ihren Dschinn zwischen ihren Brüsten verstaut, um die Hände zum Klettern frei zu haben. So unanständig eng, wie ihr seidiges Oberteil anlag, konnte das Würmchen wenigstens nicht nach unten durchrutschen. Nesrins Dschinn machte da weniger Unstände und krallte sich einfach in den Locken seiner Herrin fest.
Nesrin schwang sich über den Brunnenrand und schaute zur Sonne, die bereits hinter der Außenmauer des Palastes versank. „Oh Scheiße, schon so spät! Komm, sonst verpassen wir noch das Abendessen!“ Sie holte ihre beiden Teppiche herbei und warf sie in die Luft, wo sie auf der Stelle schwebten.
„ Halt, warte!“, rief Kiana aus. „Ich traue mich nicht, hier zu fliegen, so zwischen den Rosenbüschen und Torbögen. Ich will nicht, dass mein Dschinn zu Schaden kommt.“ Vorsichtig holte sie das Würmchen aus ihrem Ausschnitt hervor.
Seufzend legte Nesrin Kianas Teppich auf den ihren und set zte ihr Kätzchen obendrauf. „Flieg die Teppiche in unser Zimmer, Baski, und warte dort!“ Kaum dass sie das ausgesprochen hatte, flog das Kätzchen auf den Teppichen davon.
Kiana war beeindruckt. In Baski steckte mehr als auf den er sten Anblick ersichtlich war. Im Gegensatz zu Kianas Dschinn konnte der von Nesrin wenigstens etwas tun. Etwas Nützliches sogar.
„Warte , Nesrin!“ Kiana wollte nicht zu schnell gehen, aus Angst, eine unbedachte Bewegung könnte ihren Dschinn verletzen.
Bereit willig zügelte ihre Führerin das Tempo, schnaubte jedoch unwirsch, als Kiana in der Eingangshalle stehen blieb und gebannt das riesige Bodenmosaik bestaunte.
Eine üppig gebaute Frau ging so flott an ihnen vorbei, dass ihr kunterbunter Kaftan nur so flatterte. Es war die Dunkelhäutige, die unter denen gewesen war, die Kiana bei ihrer Ankunft begrüßt hatten. Von dem ebenso kunterbunten Tuch, das die Frau als Turban um ihren Kopf gewickelt hatte, hing das lose Ende herab und wehte wie eine Fahne hinter ihr her. „Rasch, Mädchen! Das Abendessen wartet. Ihr seid spät.“
„ Ich hab auch echt einen Mega-Hunger“, rief Nesrin ihr nach. „Aber Ki hat offenbar mehr
Weitere Kostenlose Bücher