Goldfalke (German Edition)
Bock auf Kunst als auf Futter.“
Das Lächeln der Frau, das sie den Mädchen über die Schulter hinweg zuwarf, durchstrahlte die ganze Halle und steckte Kiana automatisch an. Die Frau verschwand durch ein offen stehendes Tor am Ende der Eingangshalle.
Auch in Nesrins Gesichtszügen funkelte gute Laune. „Komm, Ki! Tagsüber essen alle, wann es ihnen passt, aber das Abendessen nehmen wir alle gemeinsam ein. Das eben war übrigens Ava, die Haushälterin des Palastes. Halt nein, falsch! Wenn man sie als Haushälterin bezeichnen würde, wäre sie zu recht sauer, denn sie ist viel mehr als das. Sie ist die Haushofmeisterin. Hey, was ist denn an dem alten Mosaik so spannend, dass es nicht bis nach dem Essen warten könnte?“
„Wer hat es so schnell verändert?“, fragte Ki ana.
„Was meinst du mit verändert? Es sieht doch aus wie immer.“
„Nein, eben nicht. Bei meiner Ankunft zeigte es tanzende Menschen. Jetzt ist da ein Ei zu sehen.“
Im Licht der untergehenden Sonne, das durch das offen stehende Palasttor drang, beäugte Nesrin das Kunstwerk. „Ich sehe weder tanzende Menschen noch Eier. Es sind doch nur Ornamente, sonst nichts.“
„Nein.“ Kiana deutete auf die farbigen Steinplättchen. „Das hier ist doch eindeutig ein Nest. Und hier ist das Ei, aus dem ein Vogelkopf rausschaut.“
„Du hast eine blühende Fantasie. Ich habe noch nie gehört, dass jemand in d iesen Ornamenten was anderes gesehen hat außer Deko. Aber jetzt komm! Oder bist du nicht hungrig?“
„Doch.“ Sehr sogar. Daher löste sich Kiana von dem Mosaik und folgte Nesrin quer durch die Halle zu dem großen Tor, in dem Ava verschwunden war und das in eine noch größere Halle führte. Diese war ausgelegt mit kostbaren Teppichen und Sitzpolstern, geschmückt mit Statuen und Wandgehängen und beleuchtet von Kerzen in Kristallbehältern, bunten Wandlichtern und einem riesigen Kronleuchter. Alles wirkte farbenfroh und glänzend und kostbar. Fast erwartete Kiana, dass diese fröhliche Musik aus den indischen Filmen erklang, die Tante Shabnam immer sehr gern bei Onkel Abdullahs Cousine anschaute. Deren Mann war der Einzige unter den Verwandten und Bekannten von Onkel Abdullah, der sich einen Fernseher leisten konnte.
Kiana folgte Nesrin durch die ganze Halle. M indestens zweihundert Leute saßen in kleineren Gruppen beisammen und widmeten sich den Speisen, die sich auf großen Tabletts zwischen ihnen befanden. Männer und Frauen aßen alle gemeinsam. Die Männer wurden nicht bevorzugt behandelt, und doch schienen sie zufrieden zu sein. Der Duft nach frisch gebackenem Fladenbrot und gebratenem Gemüse entzündete Kianas Hunger noch mehr. Die Auswahl an Speisen erwies sich nicht als so verschwenderisch, wie man es bei dem unermesslichen Reichtum erwartet hätte, der einem hier von überallher entgegenglänzte, entgegenfunkelte und entgegenleuchtete, aber es war mehr als genug, um alle satt zu machen.
Ava winkte. „Kommt, Mäd chen! Setzt euch her zu uns!“
Wie selbstverständlich ließ sich Nesrin zwischen Ava und Großwesir Sayed nieder, während Kiana zögerte, sich diesen Platz neben jenen hochrangigen Persönlichkeiten anzumaßen, auch wenn er ihr ausdrücklich zugewiesen wurde.
Der Großwesir stand auf. Er wartete, bis sich die Augen aller Anwesenden auf ihn richteten, und erhob sodann die Stimme: „Ich freue mich, heute unter uns Kiana begrüßen zu dürfen, die Tochter unserer lieben Schwester Elina und unseres verehrten Freundes Rupert, deren Schicksal eine tiefe Wunde in unsere Familie gerissen hat. Willkommen daheim, Kiana!“
Willkommensrufe ertönten von allen Seiten, und Kianas Gesicht wurde vor Verlegenheit so rot wie der Turban des Mannes, der schräg rechts von ihr eine Wasserpfeife rauchte. Krampfhaft versuchte sie, ihre Burka zurechtzuziehen, bis ihr bewusst wurde, dass sie gar keine anhatte.
Willkommen d aheim - diese beiden Worte, vom Großwesir so leichtfüßig dahergesagt, prallten schmerzhaft auf ihr Herz. Was sie sich im Hause ihres Onkels ihr ganzes Leben lang zu erkämpfen versucht hatte mit allem Fleiß, den sie aufbringen konnte, und doch vergeblich, das wurde ihr hier so freizügig angeboten. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Meinten sie überhaupt die richtige Kiana? Andererseits stimmten die Namen ihrer Eltern. Und bei einem so seltenen Namen wie Rupert konnte keine Verwechslung vorliegen.
Oder?
Hatte der Großwesir seine Worte über ihre Eltern ernst gemeint? In seinem Tonfall und
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