Goldfalke (German Edition)
seinem Gesicht konnte man keine Anzeichen von Heuchelei oder gemeinem Spott erkennen. Noch nie hatte Kiana jemanden etwas Gutes über ihre Eltern reden gehört.
Der Großwesir nahm wieder Platz. „Setz dich, meine Tochter, iss und trink!“ Einladend klopfte er auf das Sitzpolster zwischen sich und Nesrin. Letztere rückte ein Stück zur Seite. So konnte Kiana nicht anders, als sich dort niederzulassen. Ihren Dschinn legte sie auf ihr Knie. Erstaunlicherweise war er ein bisschen gewachsen. Nein, das konnte nicht sein in der kurzen Zeit!
Doch ! Er war eindeutig größer geworden und hatte nun sogar so etwas wie einen Kopf, der nach vorne hin spitz auslief. Seine Fußstümpfe zeigten nun je vier kleine Ausbuchtungen. Zehen? Irgendetwas beugte sich über Kiana.
Sie schrak auf und blickte in das nicht-menschliche, aber freundliche Gesicht des sechsarmigen, langgliedrigen, hellblauen Wesens, das vor einigen Stunden beim Bettenmachen geholfen hatte und offenbar Avas Dschinn war. Er reichte den Mädchen je einen goldenen Becher, während er gleichzeitig aus einer Kanne Sayeds Teeglas auffüllte. Dies zeigte anschaulich, wie praktisch es für den Dschinn einer Haushälterin war, so viele Arme zu haben. Noch beeindruckender war jedoch, dass noch drei dieser hellblauen Wesen im Saal verteilt waren und dass sich auf einen Wink von Ava hin eines davon der Länge nach spaltete und auf diese Weise einen völlig gleichen Doppelgänger hervorbrachte, der wie sein Original binnen eines Augenblicks zu seinem normalen Körperumfang anschwoll. Beide spalteten sich noch einmal. Alle dieser neuen Dschinns übernahmen sogleich dieselben Aufgaben wie die anderen, die mit gemächlicher Anmut zwischen den Speisenden herumliefen, Getränke ausschenkten, leere Brotkörbe auffüllten, gebrauchtes Geschirr abräumten und zwei heruntergebrannte Kerzen in den Wandlampen auswechselten.
Nesrin bemerkte Kianas Verwunderung. „Toll, diese Kopiernummer, was? Nur Avas Dschinn kann sich vervielfältigen. Ich habe es auch mit Baski versucht, aber es hat nie geklappt.“ Sie tunkte ihr Fladenbrot in eine gelbe Paste.
Kiana nahm sich auch ein Stück Brot und lud etwas von der gelben Paste auf den Teller, den einer von Avas Dschinns vor sie gestellt hatte. Ein Biss, und sie schloss genießerisch die Augen. Noch nie hatte sie etwas so Wohlschmeckendes gegessen. Das Brot war noch ofenwarm, und die Paste bestand aus Schafskäse, Öl, Safran und anderen Gewürzen, die man nur erahnen konnte. Der Hunger minderte Kianas Hemmungen und ließ sie ihren Teller fast so unverfroren voll laden wie Nesrin den ihren. Auch das gebratene Gemüse war köstlich. Und erst der Obstsaft in ihrem Becher! Aus welcher Frucht er gemacht war, konnte Kiana nicht sagen. Vielleicht Granatapfel. Aber auf jeden Fall schmeckte er teuer.
Das kleine Wesen auf ihrem Knie räkelte sich. O ffenbar fühlte es sich ebenfalls wohl. Falls Dschinns überhaupt etwas fühlen konnten.
„Wie ernähre ich eigentlich meinen Dschinn?“, flüsterte Kiana Nesrin so leise wie möglich zu, um bloß nicht die Gespräche der Erwachsenen zu stören. „Was frisst er?“
Nesrin musste kichern , verschluckte sich und platzte laut heraus: „Dschinns müssen doch nichts essen!“
„Du ernährst ihn mit deinem Willen“, erklärte Sayed schmunzelnd. „Je stärker dein Wille wird, desto stärker wird dein Dschinn.“
„ Und das ist echt so was von nötig!“, hängte Nesrin ihre Meinung dreist an die Belehrung des Großwesirs an. „Sorry, Ki, dass ich so offen rede, aber wenn wir deine Mutter finden wollen, brauchst du einen richtigen Dschinn und keine kleine Missgeburt.“
Sayed pflückte Kianas Dschinn von ihrem Knie und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten. „Das ist keine Missgeburt, sondern ein Küken.“
„Ein Küken!“, rief Nesrin aus. „So was hat Ki in dem großen Mosaik gesehen.“ Auf die stummen Fragen in den Gesichtern der Umsitzenden hin erklärte sie weiter: „Ki glaubt, im Bodenmosaik am Eingang ein Ei und einen Vogel gesehen zu haben. Und vorher eine Tanzshow oder so was.“
„Du kannst das Mosaik lesen?“ Neugierig beu gte sich Ava vor, bis sie an Nesrin vorbei zu Kiana schauen konnte. „Erstaunlich! Das vermochten bisher nur Soraya, ihr Sohn und ...“, sie unterbrach sich und wechselte einen besorgten Blick mit Sayed, „… noch jemand.“
Unwillkürlich schaute sich Kiana nach der Herrscherin und Farid um, fand sie aber nicht unter den Anwesenden.
Der
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