Goldfalke (German Edition)
gelernt von den Simurgh. Ich bin ihnen sehr zu Dank verpflichtet.“
Plötzlich erfasste Kiana die nagende Erkenntnis, dass sich ihr ganzes Denken bisher um ihre eigene Lebensgeschichte und die ihrer Familie gedreht hatte, ohne dass dabei kaum mehr als nur ein paar armselige Gedanken an Nesrins Schicksal aufgekommen waren. Kiana hatte dieses quirlige, freche Mädchen von Anfang an um ihr Selbstbewusstsein beneidet, ohne zu ergründen, woher Nesrins Selbstbewusstsein kam.
Oder was es sie ge kostet hatte.
Um dieses Versäumnis wenigstens ansatzweise auszubügeln, erkundigte sich Kiana: „Wie kam es eigentlich, dass du bei diesen Vögeln gelebt hast? Wo sind deine richtigen Eltern?“
Fast geistesabwesend rührte Nesrin in ihrem Reispudding. „Mein Heimatdorf wurde von D amon überfallen, als ich noch ein Baby war. Anscheinend konnte meine schwer verletzte Mutter mit mir auf einem Flugteppich flüchten. Sie kam bis zu den Ausläufern des Gebirges der Simurgh. Mein Ziehvater fand sie dort tot und mich schreiend in ihren Armen. Er nahm mich auf und zog mich als seine Tochter groß.“ Plötzlich reckte sie die Schultern. „Was mich wieder an die Frage erinnert: Wo zum Teufel versteckt sich Damon?“
„Jeder weiß doch, dass die Eherne Festung weit im Norden am Rand der Wüste liegt“, behauptete Eren. „Mit dem Kamel zehn oder elf Tagesreisen von hier.“
Zabibie reichte ihm das Fladenbrot. „Warum erzählt mir da jeder etwas anderes?“
„Weil viele Besserwisser sich bei dir wichtig machen wollen“ , wusste Munir. „Aber mein Onkel hat die Eherne Festung selber gesehen, nicht wahr, Vater?“
„Eigentlich war es der Großvater des Nachbarn deines Onkels“, räumte der Ältere ein. „Aber der hat die Festung gesehen, so wahr ich hier sitze. Der Löwen-Sultan muss sie errichtet haben, kurz nachdem er aus dem Schimmernden Palast verbannt wurde. Allerdings hält er sich wohl nicht oft in seiner Festung auf, sondern streift weit umher.“ Er sah zu Zabibie. „Machst du dir keine Sorgen, liebe Freundin, jetzt, wo er nur einen Katzensprung von hier diese Karawane überfallen hat?“
Zabibie schüttelte eines der Sitzkissen in Erens Rücken auf. „Bisher hat mich der Löwen-Sultan in Ruhe gelassen. Es macht für ihn ja auch keinen Sinn, die Oase anzugreifen. Ich gebe seinen Wasserträgern das Wasser freiwillig, so wie jedem Lebewesen.“
Eren gestikulierte mit seinem Löffel. „Wenn er die Oase besetzt, hat er Macht über das Wasser.“
Zabibie scheuchte ein Huhn fort, das gerade die Schenke betreten wollte. „ Meine Oase kann sich bestens verteidigen. Ich denke, das weiß er.“
„Das hoffe ich wirklich . Möge die Eherne Festung verrosten, auseinander fallen und alle erschlagen, die in ihr hausen!“
Der Jüngere schaute auf den Teich hinaus. „Wo ist eigentlich dein Dschinn, Zabibie? Sonst ist er doch immer da.“
„Ich würde ihn auch gern e sehen“, platzte Kiana heraus, noch bevor ihre Schüchternheit die Neugier eingefangen hatte.
„Momentan filtert er das Wasser auf dem Grund des Teichs. “ Zabibies Stimme wurde lauter. „Bijan, mein Lieber! Tauch doch mal auf! Die Gäste sind neugierig auf dich.“
Die Wasseroberfläche begann sich zu kräuseln, und ein Kopf tauchte auf. Ein riesiger , unförmiger Kopf mit einem breiten Froschmaul. Als der Dschinn mit bedächtigen Bewegungen aus dem Wasser stieg, konnte man erkennen, wie groß er war. So groß wie das Zelt der Schenke. Er hatte keinen richtigen Rumpf. Seine acht Spinnenbeine ragten unmittelbar aus seinem Kopf hervor, und zwischen ihnen spannten sich braungrünliche Häute. Irgendwie sah er aus wie eine riesengroße umgedrehte Tüte mit einem Kopf obendrauf.
Gemächlich verließ der Dschinn den Teich am gegenüberliegenden Ufer unweit der Dromedare. Auf einmal drehte er sich um seine eigene Achse, bis sich seine Beine mitsamt den Häuten wie ein Schiffstau verzwirbelten. Eine gehörige Menge Schlamm wurde dadurch aus den Häuten gewrungen und tropfte herab zu einer Morastpfütze. Dann drehte sich der Dschinn in die andere Richtung, wodurch sich die Beine wieder entwirrten und letzte Schmutzreste von sich schüttelten. Die Häute dazwischen erschienen nun, da sie vom Schlamm befreit waren, wie durchsichtige Plastikfolie.
„So befreit Bijan die Quelle von zu viel Algenbewuchs.“ Zabibies Stolz für die Leistung ihres Dschinns war offensichtlich. „Und all die Algen, toten Fische und Blätter, die er aus dem Wasser holt, sind ein
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