Goldfasan
Zustimmung zögerte, blaffte Saborski: »Das ist ein Befehl! Haben Sie das verstanden, Hauptsturmführer?«
»Jawohl.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Saborski legte auf. Golsten war irritiert. Was hatte Munder zu verbergen, dass ihn eine Befragung seiner Nachbarn beunruhigte? Denn andernfalls hätte der stellvertretende Kreisleiter wohl kaum bei Saborski interveniert.
Das Telefon meldete sich erneut. Wieder Saborski. »Ich habe noch etwas vergessen. Was ist mit dem toten Kind?«
Golsten setzte seinen Vorgesetzten vom Stand der Ermittlungen in Kenntnis.
»Der Fall ist wichtiger als diese weggelaufene Polin, Golsten. Mir wird gemeldet, dass in der Bevölkerung Gerüchte über den Leichenfund kursieren. Ich will nicht, dass sich das ausweitet. Ein totes Mädchen! Das beunruhigt die Menschen. Und Unruhe können wir nicht gebrauchen. Also, in dem Fall will ich zügig Ergebnisse sehen. Verstanden?«
Golsten war zwar der Meinung, dass die Bevölkerung sich für einen namenlosen toten Säugling weniger interessierte und sich mehr über Bomben und die Soldaten an den verschiedenen Fronten sorgte, hielt aber den Mund.
Und er hatte sehr gut verstanden, was Saborski wollte: einen Täter, und zwar irgendeinen. Bevor die Gerüchte in der Bevölkerung überhandnahmen. Ob es der wahre war, war dem Sturmbannführer egal. Hauptsache glaubwürdig. Der Fall könnte abgeschlossen werden und die Polizei des nationalsozialistischen Deutschlands hätte wieder einmal ihre Fähigkeiten bewiesen.
Golsten verspürte zum ersten Mal seit Jahren das Bedürfnis nach einer Zigarette. Er stand auf, um Schönberger einen Besuch abzustatten, blieb an der Tür für einen Moment unschlüssig stehen und setzte sich dann wieder hinter seinen Schreibtisch. Keine Zigarette. Stattdessen griff er zum Telefon und ließ einen Wagen bereitstellen. Er würde den Anrainern am Gysenberger Wald einen Besuch abstatten.
22
Dienstag, 6. April 1943
H abt ihr gut geschlafen?« Wieder rief Hermann Treppmann den verabredeten Satz.
Nur wenig später saß ihm Heinz Rosen auf den Holzklötzen gegenüber.
»Sie hatten gestern gerade begonnen, von Ihrer Freundin zu erzählen, als uns meine Tochter überraschte. Wie haben Sie sie kennengelernt?«, fragte Treppmann.
Rosen biss in das Brot, das Treppmann ihm mitgebracht hatte. »Was interessiert Sie eigentlich so an meiner Geschichte?«
Der Alte lächelte. »Sie erzählen so lebendig. Und Sie haben ein ganz anderes Leben als ich geführt. Also, wollen Sie?«
Ja, Rosen wollte. Es war für Rosen, als ob seine Erinnerungen so für die Nachwelt festgehalten werden könnten. Vielleicht war es ja so. Er machte sich keine Illusionen über sein Schicksal. Wenn Deutschland den Krieg nicht bald verlor, war es um ihn geschehen. Irgendwann würden sie ihn aufspüren.
»Ich kannte Ilse schon aus der Schulzeit. Sie ist in die jüdische Volksschule in Wanne gegangen. Ich war zunächst auf einer religiös nicht gebundenen Schule. Dann aber wurde der Druck auf meine Eltern zu groß und sie haben mich ebenfalls auf die jüdische Schule geschickt. Ich erinnere mich noch gut. Zwanzig bis dreißig Kinder lernten in fünf verschiedenen Klassen. In einem Raum. Da habe ich Ilse zum ersten Mal gesehen. Als die Volksschule 1924 geschlossen wurde, folgten wir unserem Lehrer Rosenbaum in die konfessionsfreie Diesterwegschule. Später besuchte ich dann ein Gymnasium in Herne, Ilse das Oberlyzeum in Wanne-Eickel. Für einige Zeit haben wir uns dann aus den Augen verloren. Erst einige Jahre später beim Sukkot -Fest haben wir uns in der Herner Synagoge wiedergesehen.«
»Was ist das?«, unterbrach ihn Treppmann.
»Das Laubhüttenfest. Es erinnert an die Wüstenwanderungen des jüdischen Volkes. Wie angeblich unsere Vorfahren bauen wir während der Festtage eine Hütte aus Ästen und Blättern. Damit sich ein jeder besinnt, dass alles Materielle vergänglich ist und jederzeit verloren gehen kann. Ist viel Wahres daran, finden Sie nicht auch?«
Treppmann nickte. »Seit Kriegsbeginn wird uns das täglich vor Augen geführt.«
»Ich sehe das auch so. Gleichzeitig ist es für gläubige Juden ein Symbol, dass Gott im Gegensatz zu einer Hütte aus Laub unvergänglich ist.«
»Sie glauben nicht an Gott?«
»Nein. Aber Sukkot ist trotzdem ein schönes Fest. Könnte ich wohl noch einen Schluck Wasser haben?«
Treppmann schenkte Rosen ein, den die Erinnerung offensichtlich überwältigte.
»Danke.« Rosen sprach weiter: »Na ja, das war
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