Goldfasan
1932. Sie war achtzehn, ich einundzwanzig. Wir waren ineinander verliebt und sprachen von Heirat. Aber dann ergriff Hitler die Macht und ich begann mit der illegalen Arbeit. Da ist es besser, wenn man nicht gebunden ist. Anfangs haben wir uns noch häufiger sehen können, aber als die Überwachung von uns Juden immer lückenloser wurde, blieben Ilse und mir nur noch Briefe. Später wurde auch das zu gefährlich. Ilse lebte damals mit ihren Eltern in der Bismarckstraße. Im selben Haus wohnten die Munders, überzeugte Nationalsozialisten und natürlich schon damals stramme Antisemiten.«
»Meinen Sie etwa den Munder, den stellvertretenden Kreisleiter?«
»Ja. Beziehungsweise ihn und seine Eltern. Walter ist der jüngste Sohn. Ein Mistkerl, wenn Sie mich fragen.«
Treppmann lächelte. »Das liegt auf der Hand.«
»Nein, nein, ich meine das noch nicht einmal politisch. Munder ist vor allem als Mensch ein Schwein. Er war schon damals hinter jedem Rock her, den er kriegen konnte. Auch bei Ilse hat er sein Glück versucht. Stellen Sie sich das vor: Ein Antisemit wie Munder begrapscht eine Jüdin.«
»War das vor oder nach den Nürnberger Rassengesetzen?«
»Danach. Munder hat sich einen Dreck um dieses Gesetz geschert.« Ein Lächeln spielte um Rosens Lippen. »In diesem Punkt bin ich sogar mit ihm einer Meinung. Dieses Gesetz taugte wirklich nur dazu, es zu ignorieren. Ilse hat ihn natürlich zurückgewiesen. Wir haben uns über den Bock lustig gemacht. Ein Nazi, der Rassenschande begehen will. Was für eine Groteske!« Rosens Lächeln erstarb. »Doch aus der Groteske wurde Dantes Inferno. Ilse wurde Ende 1941 als eine der Ersten in das Getto Riga deportiert. Ich traue Munder durchaus zu, dabei seine dreckigen Finger im Spiel gehabt zu haben. Sie müssen wissen, wir kannten uns alle seit der Einschulung. Und er wusste von meiner Beziehung zu Ilse und meiner Arbeit für die KPD.« Sein Blick wurde wehmütig. »Zunächst kam Ilse in ein provisorisches Sammellager in Dortmund, in das Lokal Zur Börse. Zwei Tage später erfolgte ihr Abtransport nach Riga. Über Umwege habe ich einen Brief erhalten, der aus dem Getto herausgeschmuggelt worden ist. Das ist das letzte Lebenszeichen von Ilse.« Rosen öffnete sein Hemd und zog aus einem Brustbeutel ein vergilbtes Blatt Papier. Sorgfältig, fast liebevoll faltete er den Zettel auseinander. »Er war an eine Nachbarin gerichtet. Ilse wusste ja nicht, wie sie mich erreichen konnte. Ich lese Ihnen nur die letzten Sätze vor. Sie sind ein Code.« Er räusperte sich. »Ich werde nicht mehr lange hier sein. Ich besuche Onkel Willi und Tante Else. Mein Liebster, sei du schlauer, als ich es war. Es umarmt und küsst dich …« Rosen konnte nicht weitersprechen.
Minuten vergingen, bis er sich wieder gefangen hatte. »Ihr Onkel und ihre Tante waren schon 1930 gestorben. Sie kündigt mit diesen Zeilen ihren baldigen Tod an. Und ihre Bemerkung über mich spielt darauf an, dass wir darüber gesprochen haben, uns nie den Nazis kampflos ergeben zu wollen. Eher wollten wir sterben. Wenn es sein müsste, durch eigene Hand. Ihr ist das nicht gelungen. Sie …« Tränen rannen über Rosens Gesicht.
Treppmann legte einen Arm auf die Schultern des Trauernden.
Rosen ergriff dessen Hand und drückte sie fest. »Ich würde sie so gerne wiedersehen«, schluchzte er, von Krämpfen geschüttelt. »Nur einmal noch.«
23
Dienstag, 6. April 1943
G olsten ließ den Fahrer kurz hinter der Stadtgrenze am Hiltroper Landwehr halten. Zwischen Wald und Feldern gruppierte sich ein knappes Dutzend Häuser, die meisten von ihnen kleinere Bauernhöfe oder Kotten. Der Hauptkommissar lief auf die erste Behausung zu.
Da keine Klingel vorhanden war, klopfte Golsten an die Tür. Keine Reaktion. Er klopfte erneut, ein wenig heftiger. Immer noch reagierte niemand. Erst als Golsten mit der Faust gegen die schwere Eichentür hämmerte, hörte er von innen schlurfende Schritte. Eine ältere Frau sah ihn mit erstaunten Augen und offenem Mund an.
Golsten zückte seine Dienstmarke, die die Alte aber offensichtlich nicht interessierte. »Ich bin von der Kriminalpolizei. Mein Name ist …«
»Könnten Sie wohl etwas lauter sprechen. Ich höre nicht mehr so gut«, sagte die Frau.
Golsten steigerte die Lautstärke und brüllte fast, bis die Frau Verstehen zeigte.
»Polizei? Aber ich habe doch nichts getan.«
»Ich bin auch nicht wegen Ihnen hier«, schrie Golsten.
»Nicht? Warum sind Sie denn sonst hier?«
»Ist Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher