Goldfieber
war sie eine junge Frau von kaum zwanzig Jahren, und sie schwor sich, dass sie nicht ruhen würde, bis die gütige Xochiquetal im Götterhimmel der Azteken wieder den ihr gebührenden Platz eingenommen hätte. »Ein Volk, das nur den Krieg und die Grausamkeit anbetet«, erklärte sie viele Jahre später ihren Töchtern, »ist dem Untergang geweiht! Das wurde mir an jenem Tag erschreckend klar. Und deshalb bitte ich euch, meine Töchter, lasst uns gemeinsam und in aller Stille den Kult der Göttin Xochiquetal wiederbeleben. Wenn wir die gütige Mondgöttin verehren und anbeten, wie sie es in früheren Zeiten gewöhnt war, so wird sie uns irgendwann erhören und ihr mildes Licht wieder über unserem Volk erstrahlen lassen.«
Carlitas Mutter und Ixhuicatli stimmten begeistert zu. Ihnenwar bewusst, dass sie alle sterben müssten, wenn ihr Treiben bekannt würde. Aber alleine nur die alten Zeremonien in aller Stille durchzuführen erfüllte sie mit einer solchen gelassenen Sanftheit, dass es jeder von ihnen das Wagnis mehr als wert schien. Sie wählten Ixhuicatli zu ihrer Hohepriesterin. Die alten Gesänge, die sie anstimmten, das Räucherwerk, das sie verbrannten, die Tänze um den blumengeschmückten Altar der Mond- und Liebesgöttin – das alles verlieh ihnen eine ungekannte Kraft und stille Zuversicht. Und so wurden sie mit der Zeit immer mutiger und wohl auch ein wenig sorglos.
Nach und nach weihten sie die Frauen und Mädchen aus einigen weiteren Adelsfamilien ein, aus denen in früheren Zeiten gleichfalls Xochiquetal-Priesterinnen hervorgegangen waren. Über mehrere Mittelsmänner kaufte Ixhuicatli schließlich in einem abgelegenen Stadtviertel ein Anwesen, das seit vielen Jahren nicht mehr genutzt worden war. In einem hoch ummauerten Innenhof stand dort ein quaderförmiger Bau auf einem verwitterten Steinsockel, den Überresten einer uralten Pyramide. Gewiss erinnerte sich kaum jemand mehr daran, dass es einst ein Xochiquetal-Tempel gewesen war. Fast Hundert Jahre waren vergangen, seit in diesem Bauwerk zum letzten Mal eine priesterliche Zeremonie stattgefunden hatte. Doch in Carlitas Familie war auch dieses Wissen von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden – einschließlich genauer Angaben, wo die letzten Priesterinnen dieses Tempels die kostbaren Ritualgegenstände verborgen hatten.
Zu jener Zeit gehörte Carlita bereits dem Kreis der Xochiquetal-Priesterinnen an. Noch war sie eine Novizin, aber für alle stand fest, dass sie eines Tages die neue Hohepriesterin sein würde. Schon als kleines Mädchen hatte sie im Traum die göttlichen Zeichen empfangen. Sie hatte mehrfach geträumt, dass sie ein ganz aus Ringelblumen geflochtenes Gewand trug und auf dem Rücken eines riesengroßen silbernen Kaninchens zum Mond emporschwebte.Das waren die Träume, die seit altersher anzeigten, dass ein Mädchen zur Hohepriesterin berufen war.
Carlita lernte, wie sie das Räucherwerk mischen, wie sie den Altar für die jeweiligen Zeremonien schmücken musste und welche Tänze und Gesänge zu den verschiedenen Riten gehörten. Mit vierzehn Jahren sollten sie und einige weitere Mädchen zu Priesterinnen geweiht werden. Zwei Jahre später, an ihrem sechzehnten Geburtstag, würde sie in einer feierlichen Zeremonie das Amt der Hohepriesterin von ihrer Tante Ixhuicatli übernehmen.
Eines Abends aber, vor mittlerweile mehr als zwei Jahren, wurden sie in ihrem Heiligtum überfallen. Grau gewandete Männer stürmten den Tempel und setzten ihn mit Fackeln in Brand. Es waren Montezumas Zauberer, und sie zwangen die Mädchen und Frauen, in einem lichtlosen Gewölbe im Sockel der Pyramide Zuflucht zu suchen. Dort geschah dann das Grauenvolle: Die Zauberer beschworen Unmengen übelwollender Geister und die Priesterinnen waren in dem Gewölbe gefangen und wurden die ganze Nacht hindurch von den Dämonen gepeinigt.
Giftgelbe, blutrote und grell grüne Dämpfe waberten durch den Raum und benebelten ihnen die Sinne. Bald schon konnten sie nicht mehr zwischen ihren Gefährtinnen und den umhertobenden Spukgestalten unterscheiden. Sie stürzten sich kreischend aufeinander, versuchten sich gegenseitig die Augen auszukratzen und die Kehle zu zerquetschen. Irgendwann stellten sie fest, dass die Gewölbetür nicht mehr verschlossen war – sie taumelten ins Freie, auch von den Zauberern war weit und breit nichts mehr zu sehen. Aber die Dämonen waren weiterhin bei ihnen – oder in ihnen. Der Tempel auf dem Pyramidenfirst stand in
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