Goldfieber
Steinbank am Fenster und starrte auf den Platz hinab, offenbar ohne irgendetwas wahrzunehmen.
»Carlita«, sagte ich leise und setzte mich neben sie. Seit sie vor der Opferpyramide in Tränen ausgebrochen war, hatte sie kein Wort mehr mit irgendwem geredet. »Bitte«, sagte ich. »Erzähle mir, was dich bedrückt.«
Sie schaute mich an und gleich wieder fort. Stumm sahen wir beide auf den Platz hinunter, wo eben unser Herr aus dem Tor trat. Mindestens fünfzig Krieger, bunt bemalt und festlich gewandet, bildeten sogleich einen Ring um ihn und sein Gefolge. Sie brachten ihn fast im Laufschritt zur anderen Seite des Platzes – es sah mehr wie eine Gefangennahme als wie ein feierliches Geleit aus.
Carlitas Finger krampften sich in meine Hand. »Es stimmt, was Olintecle gestern gesagt hat«, flüsterte sie. »Ich weiß es von Ixhuicatli, unserer Hohepriesterin!«
Wieder schaute sie mich an. Ihre Augen waren von Tränen verschleiert und ich fühlte mich hilfloser und schuldiger als jemals vorher in meinem Leben. Wenn sie nun erneut einen Weinkrampf bekäme – was sollte ich dann nur machen? Dann konnte ich sie doch nicht einfach weiter bedrängen, bis sie zusammenbrechen und mir alles anvertrauen würde, was sie seit so langer Zeit am tiefsten Grund ihres Herzens verbarg! Aber genauso wenig konnte ich das alles weiter auf sich beruhen lassen, sonst würde Fray Bartolomé auf seine Weise in sie dringen – mit glühenden Zangen und Klingen!
»Versprichst du mir etwas?«, flüsterte Carlita.
»Alles, was du willst«, antwortete ich.
Sie beugte sich zu mir herüber und ihre Lippen berührten beinahe mein Ohr. »Versprich mir, dass du alles tun wirst, was in deiner Macht steht, damit euer Herr seinen Plan aufgibt! Überrede ihn, beschwöre ihn, flehe ihn an, was auch immer – aber bringe ihn dazu, nicht nach Tenochtitlan zu gehen!« Sie legte einen Arm um meinen Hals, als ob sie mich würgen wollte. »Versprichst du es mir?«
Von der Pyramide am anderen Ende des Platzes schallte Trommeldonner zu uns herüber. Die Priester bliesen in Muschelflöten und stießen Schnalz- und Trillerlaute aus. Am Fuß der Pyramide und auf allen fünfzig oder sechzig Stufen bis hinauf zum First standen die Menschen dicht gedrängt. Auf den Stufen war nur eine schmale Gasse frei geblieben und durch diese Gasse führten die Priester in ihren blutverkrusteten Gewändern nun die Opfer zum Tempel empor. Ihre Köpfe waren mit Blumenkränzen geschmückt, ihre Körper nackt bis auf das Hüfttuch und ein blutrotes Zeichen über ihren Herzen. Gehorsam stiegen sie die Treppe empor, ohne sich gegen ihr schreckliches Los zu sträuben. Vielleicht empfanden sie es gar nicht als grausam oder sinnlos, schoss es mir durch den Kopf – vielleicht fühlten sie sich sogar geehrt, weil sie glaubten, dass sie von einer mächtigen Gottheit ausgewählt worden seien?
»Wenn wir nach Tenochtitlan gehen, kommen wir alle um!«, fuhr Carlita mit bebender Stimme fort. »Ein schrecklicheres Ende wartet dort auf euch, als ihr es euch in euren schwärzesten Albträumen ausmalen könnt! Sogar die Qualen, die die armen Burschen da drüben auf der Pyramide erleiden, und die Ängste, die sie durchmachen mussten, seit sie in den Opferkäfig eingesperrt wurden – das alles ist die reinste Kinderei, verglichen mit der Hölle, die euch in Tenochtitlan erwartet! Also versprich mir, dass du Cortés davon abbringen wirst, wenn du erst gesehen hast, was ich in der dunkelsten Kammer am tiefsten Grund meines Herzens mit mir herumtrage!«
Mir war heiß und kalt, mein eigenes Herz klopfte hart und schnell. Ich empfand Mitleid mit Carlita und ich kam beinahe um vor Liebe. Aber irgendetwas in mir blieb zugleich kühl wie Cortés und flüsterte mir zu: Versprich es ihr nur! Was kannst du dafür, wenn er deinen Rat nicht befolgt? Du bist ja nur sein Page!
»Offenbare mir das dunkle Geheimnis, das du mit dir herumträgst!«, sagte ich zu Carlita. »Ich schwöre dir, dass ich nichtsunversucht lassen werde, um Cortés klarzumachen, dass Montezuma uns in Tenochtitlan auf schreckliche Weise umbringen will.«
- 4 -
Ixhuicatli, so erzählte mir Carlita, war von frühester Kindheit an ihre Lieblingstante gewesen. Sie war die jüngste Schwester von Carlitas Mutter und lebte bei ihnen in dem weitläufigen Palast im Adelsbezirk von Tenochtitlan. Carlitas Elternteile stammten beide aus hoch angesehenen Adelsfamilien. Noch die Urgroßmutter von Carlitas Mutter und von ihrer Tante Ixhuicatli war
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