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Goldfieber

Goldfieber

Titel: Goldfieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Hohepriesterin der Mondgöttin Xochiquetal gewesen und vor ihr hatten zahlreiche ihrer Vorfahrinnen dieses ehrenvolle Amt ausgeübt.
    Doch unter der Herrschaft des kriegerischen Königs Itzalcoatl, mit dem vor fast hundert Jahren der Aufstieg der Azteken zu ihrer heutigen Macht und Pracht begonnen hatte, war etwas äußerst Merkwürdiges geschehen. Praktisch über Nacht waren die Riten und Zeremonien bei fast allen Götterkulten verändert worden. Die Priester und Hohepriester waren dieselben wie vorher – nur erzählten sie auf einmal ganz andere Geschichten vom Wirken der Götter und führten Zeremonien durch, von denen man vorher noch nie gehört hatte. Wer nachzufragen wagte, was es mit diesen Veränderungen auf sich hatte, bekam günstigstenfalls etwas von »wiedergefundenen Schriftrollen« zu hören. Die meisten Fragesteller fanden sich jedoch bald darauf im Kerker wieder oder sogar auf dem Opferstein einer der Gottheiten, die über Nacht so blutdürstig geworden waren.
    Das alles rief beträchtliche Unruhe hervor. Selbst Götter, die sich bis vor Kurzem noch mit der gelegentlichen Opferung einzelner Menschenherzen begnügt hatten, erschienen in den Schilderungen der Priester auf einmal als unersättlich blutgierige Wesenheiten. Andere Götter, die von der Wüste bis zum Meer fürihre Milde und Menschenfreundlichkeit bekannt waren, wurden kurzerhand zu Gottheiten minderen Ranges erklärt. Dem alten Kriegsgott Tezcatlipoca beispielsweise waren bis dahin allenfalls ein paar alt gewordene Sklaven und meistens nur ein Hund oder sogar bloß ein Huhn geopfert worden. Doch plötzlich hieß es, Tezcatlipoca giere nach dem lebenswarmen Blut und den zuckenden Herzen junger Krieger! Ebenso hatte sich der Wettergott Tlaloc bisher meist schon erweichen lassen, wenn die Priester nur ein paar Kinder durch Ohrfeigen zum Weinen brachten. Ihre Tränen hatten ihm als Opfer genügt, und zum Dank hatte er die Felder mit seinen gewaltigen Tränen genetzt – doch auf einmal hieß es, Tlaloc verlange, dass die Priester bei jeder Zeremonie eine Anzahl Kinder zu Tode quälten!
    Seltsamerweise waren auch sämtliche Schriftrollen, in denen die bis dahin bekannten Mythen und üblichen Zeremonien verzeichnet waren, über Nacht verschwunden. Doch außer den Priestern und den Adeligen konnte sowieso kaum jemand die traditionellen Bilderhandschriften lesen. Vor allem aber stellte sich heraus, dass die Priester den so erschreckend gestiegenen Blutdurst der Götter hauptsächlich durch die Opferung von Sklaven und Kriegsgefangenen stillten. Anstelle von Beunruhigung und Angst empfanden die meisten Azteken daraufhin Stolz auf ihre so mächtigen Götter: Monat für Monat wurden fortan mehr als Tausend junge Männer und Frauen, Mädchen und Jungen aus ganz Mexiko nach Tenochtitlan geschafft – die Blüte der tributpflichtigen und in Kriegen unterlegenen Völker, die zum Wohl der aztekischen Götter auf den Opfersteinen hingeschlachtet wurden.
    Carlitas Familie verlor durch diese Entwicklung an Einfluss und Ansehen. Xochiquetal galt auf einmal nur noch als niedere Gottheit. Den Tempeldienst versahen keine Priesterinnen mehr, sondern bloß noch ein paar einfache Dienerinnen, über die natürlich auch keine Hohepriesterin mehr wachte. Die Frauen inCarlitas Familie akzeptierten diese Erniedrigung nie – auch wenn sie sich nach außen nichts anmerken ließen.
    Im Geheimen gaben sie das Wissen um die alten Riten und Zeremonien von einer Generation zur nächsten weiter. Carlitas Mutter und Ixhuicatli waren noch nicht geboren, als die gigantische Huitzilopochtli-Pyramide auf dem Tempelplatz von Tenochtitlan eingeweiht wurde – nach christlicher Zeitrechnung im 1487. Jahr des Herrn. Nicht weniger als achtzigtausend Menschen ließ der Große Itzalcoatl damals zu Ehren des Kriegsgottes opfern – ein Wochen währendes zeremonielles Massaker, das niemand, der dabei war, jemals wieder vergaß. Die ganze Stadt roch nach Blut und Eingeweiden und verbranntem Menschenfleisch. Das Huitzilopochtli-Standbild im Tempel oben auf der Pyramide, eine zehn Fuß hohe Hohlskulptur, quoll über vor blutigen Menschenherzen, die die Priester ihrem unersättlichen Gott in den aufgerissenen Jaderachen stopften. Blutströme ergossen sich durch die Rinnen am Rand der 113 Pyramidenstufen in die Tiefe und schwappten unten auf das sonst so makellos weiße Pflaster.
    Irgendwo dort unten auf dem Platz stand auch Carlitas Großmutter und beobachtete die grauenvolle Zeremonie. Damals

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