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Goldfieber

Goldfieber

Titel: Goldfieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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sehr Eigenartiges gehört«, fuhr Cortés mit gedämpfter Stimme fort. »Gestern habe ich Olintecle danach gefragt – auf der Pyramide, kurz bevor das Schlachten anfing – und er hat mir alles bestätigt. Die Azteken haben anscheinend nicht nur ihren Götzenglauben, sondern auch die Geschichte ihres Volkes verfälscht. Einen Tagesmarsch nördlich von Tenochtitlan steht eine gewaltige Tempelstadt, die von den Tolteken erbaut worden sein soll – einem geheimnisvollen Volk, das in ganz Mexiko bewundert und verehrt wird. Als die Azteken vor rund zweihundert Jahren in diese Gegend kamen, war die Tempelstadt der Tolteken schon seit einem halben Jahrtausend verlassen, und niemand wusste zu sagen, wohin die Bewohner gegangen waren.«
    Er unterbrach sich und schaute starr vor sich hin. »Es gab aber schon damals eine Prophezeiung, die angeblich von Potonchan bis Texcoco jeder Knabe und jeder Greis kennt«, sprach er fast flüsternd weiter. »Diese Prophezeiung lautet: Eines Tages werden die Tolteken zurückkehren und wie früher über ganz Mexiko herrschen. Und die Azteken behaupteten nun einfach, dass sie dieNachkommen jener Tolteken seien und dass sich ihnen deshalb alle Völker Mexikos unterwerfen müssten, so wie sie auch früher den Tolteken untertan waren. Der Unterschied war allerdings, dass die Tolteken ein allgemein bewundertes Volk großartiger Baumeister waren und die Azteken damals nur eine Horde neureicher Emporkömmlinge. Deshalb glaubt ihnen bis heute niemand, dass sie die Nachkommen der Tolteken sind – und vor allem konnten sie selbst niemals vergessen, dass sie ihre eigene Vergangenheit gefälscht haben. Aus diesem Grund leben Montezuma und seine Vorgänger seit Jahrhunderten in der Angst, dass die wirklichen Nachkommen der Tolteken eines Tages zurückkehren und sie von ihrem angemaßten Platz verjagen werden. Verstehst du?«, fragte mich Cortés.
    Durch einen weiteren Wink gab er mir zu verstehen, dass ich mein Ohr wieder von seinem Mund entfernen sollte. Erleichtert brachte ich meinen Rücken und Hals in die Senkrechte.
    »Ich bin nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte ich und rieb mir verstohlen meinen Nacken. »Die Azteken haben also ihre Götterkulte und ihre eigene Geschichte verfälscht? Dann leben sie sogar in zweifacher Angst: dass irgendwelche ihrer Götzen sie dafür bestrafen könnten und dass die wirklichen Tolteken eines Tages wiederkehren und ihnen gleichfalls ihre Lügen heimzahlen könnten – ist das so richtig, Herr?«
    Cortés starrte in seiner gewohnten Art durch mich hindurch. »Richtig, wenn auch unvollständig«, antwortete er. »Der Götze, dessen Zorn Montezuma und seine Ratgeber offenbar am meisten fürchten, ist ausgerechnet der gütige Quetzalcoatl. Und weißt du auch, warum sie glauben, dass gerade dieser Quetzalcoatl mehr Gründe als alle anderen Götzen hat, mit einem Donnerknall in Montezumas Palast zu erscheinen?«
    Ich nickte und hob gleichzeitig meine Schultern. »Nun, Herr, weil Ihr gekommen seid und weil so vieles, was sie diesem Quetzalcoatl zuschreiben, auf Euch zutrifft. Ihr verschmäht Menschenopferund fordert die Indianer auf, die Muttergottes zu verehren, die für sie niemand anderes als Xochiquetal ist, die göttliche Schwester jenes Quetzalcoatl. Außerdem seid Ihr so weise und gütig wie …«
    »Genug!«, fiel mir Cortés ins Wort. »Das alles sind Gründe, warum Montezuma glauben kann, dass ich der wiedergekehrte Quetzalcoatl bin. Aber es erklärt überhaupt nicht, warum die Aztekenherrscher schon seit hundert Jahren in der Angst leben, dass gerade Quetzalcoatl an ihrem Thron rütteln wird. Der Grund dafür ist so eigenartig, dass ich es erst gar nicht glauben wollte.«
    Unser Herr schüttelte den Kopf. Die Mittagssonne brannte auf uns herunter, aber hier oben am Ufer des Gebirgsflusses war die Luft trotzdem ziemlich frisch.
    »Bevor dieser Quetzalcoatl«, sagte Cortés, »nach dem Aberglauben der Indianer zum Gott erhoben wurde und zu den Sternen emporfuhr, war er angeblich ein sterblicher Mensch – nämlich der weise Anführer der Tolteken! Die Aztekenherrscher leben also in einer doppelten Angst, wie du ganz richtig gesagt hast. Aber das Entscheidende ist, dass beide Arten von Angst denselben Namen haben: Quetzalcoatl, Herrscher und Gott! Und solange Montezuma nicht ganz sicher sein kann, dass ich nicht dieser wiedergekehrte Quetzalcoatl bin, wird er sich nur immer auswegloser in seinen Zweifeln und Befürchtungen

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