Goldfieber
den Geretteten – und gerade in diesem Moment schlägt er seine Schildkrötenlider auf.
- 7 -
Der Gerettete dreht seinen Kopf im Liegen hin und her. Sein Blick flackert zum Tempel und zu dem Haufen brennender Götzenbilder davor. Er murmelt irgendetwas, doch ich verstehe kein Wort. Es klingt überhaupt nicht spanisch. Da durchzuckt mich der Gedanke: Vielleicht hat er vorhin nur im Rausch oder Fiebertraum die letzten Worte aus dem Requerimiento nachgelallt!
Also kann er gar kein Spanisch? Aber das darf nicht sein! Wiesoll ich jemals sein Herz ergründen, wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen?
Ich beuge mich über ihn und berühre ihn an der Schulter. »Wie heißt du?«, frage ich.
Seine Augen fallen wieder zu. Ein Lächeln fliegt über sein Gesicht und enthüllt ganz kurz seine raubkatzenhaft zugefeilten Zähne. Offenbar bereitet es ihm Mühe, halbwegs wach zu bleiben.
»So war es also kein Traum?«, murmelt er mit schlafverquollener Stimme, doch in fehlerlosem Spanisch.
»Nein, kein Traum«, sage ich und rüttele ihn ein wenig fester. »Schlaf nicht wieder ein«, bitte ich ihn. »Sage mir deinen Namen! Wie kommt es, dass du so gut Spanisch sprichst?«
»Du meinst …« Seine Stimme erstirbt zu einem Flüstern. »So gut Chontal …?«
»Oder auch so herum«, antworte ich erstaunt. »Aber wie kannst du Spanier sein – und siehst doch wie ein Indianer aus? Deine Haut …«
Sein Lächeln wird zum listigen Grinsen. »Es sieht echt aus, oder?«, murmelt er. »So viele Nadeln …« Er unterbricht sich und stöhnt auf. Seine Hand tastet nach dem Verband auf seiner linken Brustseite.
»Sie nehmen die Nadeln von Kakteen«, flüstert er. »Tauchen sie in Pflanzenfarben und stechen sie dir in die Haut. Überall, eine nach der anderen, stundenlang. Tagelang – bis du es nicht mehr zu ertragen glaubst! Aber natürlich lässt du dir nichts anmerken … du zuckst nicht einmal mit der Wimper … das ist hier ganz wie zu Hause in …«
»In?«, wiederhole ich und schüttele ihn hin und her. »Weiter!«, stoße ich hervor. »Wo kommst du her, wie heißt du? Wie hat es dich hierher verschlagen?«
Doch der Gerettete schenkt mir keine Beachtung. Meine Fragen scheint er überhaupt nicht mitbekommen zu haben. »Weißt du noch?«, flüstert er. »Als wir beide Knaben waren …«
Seine Augen gehen wieder auf und diesmal scheint er mich zu sehen. »Carlito?«, murmelt er, und ein verzücktes Lächeln lässt sein Gesicht erstrahlen, soweit das trotz Schildkrötenmuster möglich ist. »Du bist es doch – mein kleiner Bruder, Carlos de Aguilar?«
Ich schüttele den Kopf – Leonels kleiner Bruder zu sein reicht mir völlig aus. »Mein Name ist …«, beginne ich und beiße mir auf die Unterlippe. Gerade noch rechtzeitig ist mir klar geworden, dass der Gerettete drauf und dran ist, mir sein Herz zu öffnen.
»Na klar, Bruder«, murmele ich und nicke ihm eifrig zu, »ich bin’s – Carlito, wer denn sonst?«
Er starrt mich an und seine Augen füllen sich mit Tränen. Mir wird heiß und kalt, weil ich ihn angelogen habe, aber gleichzeitig spüre ich, dass ich so und nicht anders handeln musste.
Der Gerettete hebt seine Arme empor und umfasst meinen Kopf mit seinen Händen. »Carlito, mein lieber Carlito«, flüstert er unter Tränen, »wie oft habe ich davon geträumt, dich und unsere Eltern eines Tages wiederzusehen!« Er unterbricht sich und schaut mich erschrocken an. »Aber sag doch«, fragt er dann, »wie geht es ihnen? Dem Vater, der Mutter – sie sind doch am Leben?«
Ich nicke so gut, wie das geht, wenn jemand deinen Kopf mit beiden Händen festhält. Aber dem Geretteten scheint es zu genügen.
»Gott sei es gedankt«, murmelt er. »Sie leben! Du lebst! Und ich bin frei!« Wieder fallen seine Augen zu, aber gleichzeitig bricht ein Redestrom aus seinen Lippen hervor – wie ein Wasserfall, der dort über viele Jahre, in Tausenden Stunden schwärzester Verzweiflung, angestaut worden war.
Sein Name ist Geronimo de Aguilar, so viel kann ich seinem rasenden Gestammel entnehmen. Er stammt aus Ronda und ist ein Minoritenmönch, der im Jahr 1511 auf einer Brigg nach Jamaika unterwegs war. Doch sie erlitten Schiffbruch und Geronimowurde zusammen mit einem Dutzend Leidensgefährten an die Küste von Yucatan gespült. Damals war er dreiundzwanzig Jahre alt. Tagelang waren sie im Meer getrieben, an einige Planken geklammert. So konnten die Indianer sie leicht überwältigen und in eine Siedlung im Landesinneren
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