Goldfinger
Billy Ring formte ein lautloses »O« an Stelle eines Lachens und ging weiter.
Der Zug ratterte durch den Brandenburg-Bahnhof. Leichen scharenweise! Männer, Frauen, Kinder, Soldaten! Der Bahnsteig war übersät mit ihnen. Bond spähte nach einer Bewegung, einem heimlichen Blick, einem Handzucken: nichts! Halt, was war das? Ein leises, gedämpftes Weinen drang durchs Fenster! Am Kartenschalter standen drei Kinderwagen, die Mütter lagen daneben. Natürlich! Die Säuglinge hatten die Milch getrunken, nicht das tödliche Wasser.
Fakto erhob sich, ebenso die ganze Abteilung Goldfinger. Die Gesichter der Koreaner waren gleichgültig, unverändert. Keiner sah auf den anderen, schweigend bildeten sie am Ausgang eine Reihe und warteten.
Tilly Masterton berührte Bonds Ärmel. Ihre Stimme zitterte. »Sind Sie sicher, daß die alle schlafen? Da war doch so etwas wie . . . Schaum auf manchen Lippen!«
Auch Bond hatte es gesehen, und der Schaum war blutig gewesen. Er sagte: »Ach, die haben Bonbons oder sonstwas gegessen! Sie kennen doch die Amerikaner - immer müssen sie etwas kauen.« Dann raunte er ihr zu: »Halten Sie sich von mir fern, man wird vielleicht schießen!« Sie nickte stumm, ohne ihn anzusehen. »Ich halt’ mich an Pussy, sie wird mir helfen.« Bond lächelte ihr aufmunternd zu: »Gut.«
Langsam holperte der Zug über ein paar Weichen und blieb stehen. Das Signalhorn der Diesellok tutete, die Türen öffneten sich, und die einzelnen Gruppen quollen auf der Seite des Golddepots auf den Bahnsteig.
Alles rollte nun mit militärischer Präzision ab: Die Gruppen traten in Gefechtsordnung an - zuerst ein Sturmtrupp mit Maschinenpistolen, dann die Krankenträger mit den Bahren (jetzt gewiß überflüssig, dachte Bond), dann Goldfingers Sprengkommando mit dem umfangreichen Segeltuchpaket, weiterhin eine gemischte Gruppe von Ersatzfahrern und Verkehrseinweisern und schließlich die Schwesterngruppe, nun mit Revolvern, die mit einer schwerbewaffneten Reservegruppe zurückbleiben sollte, um jeder unerwarteten Einmischung zu begegnen, falls, wie Goldfinger es ausgedrückt hatte, »jemand aufwachen sollte«.
Bond und das Mädchen waren der Kommandogruppe zugeteilt, die aus Goldfinger, Fakto und den fünf Gangsterführern bestand. Sie sollten auf den Dächern der beiden Dieselloks bleiben, die jetzt wie geplant außerhalb der Seitengebäude, mit voller Sicht auf das Zielobjekt und seine Anmarschwege, standen. Bond und das Mädchen sollten sich um Karten, Zeitpläne und Zeitkontrolle kümmern und jede Verspätung sofort Goldfinger anzeigen, der über Sprechfunk mit den Gruppenführern in Verbindung stand. Vor der Explosion würden sie hinter den Dieselloks in Deckung gehen.
Ein doppeltes Tuten des Signalhorns, und der Sturmtrupp, hinter sich die anderen Gruppen, durchlief die zwanzig Meter freien Geländes von der Bahnlinie zum Bullion Boulevard. Bond hielt sich so nahe wie möglich an Goldfinger, der die Augen am Feldstecher und den Mund am Brustmikrophon hatte. Aber Fakto stand dazwischen, ein massiver Muskelberg, und ließ Bond nicht aus den Augen. Scheinbar in der Kartenmappe suchend und die Zeit kontrollierend, berechnete Bond Distanzen und Winkel zu den vier Männern und der Frau, die gebannt auf das Schauspiel starrten. Jetzt sagte Jack Strap aufgeregt: »Durch die ersten Tore sind sie durch!« Bond warf einen Blick auf das Kampf feld.
Es war ein außerordentlicher Anblick: der massive, in der Sonne glitzernde Granitbau inmitten des offenen Feldes, die Straßen mit den in Doppelreihen wartenden Lastern und Transportzügen, jeweils mit den Erkennungsflaggen der Banden auf dem ersten und letzten Fahrzeug jedes Konvois. Die Fahrer lagen hinter der Sperrmauer in Deckung, und durch das Haupttor strömten in Marschordnung die Gruppen aus dem Zug. Außerhalb dieses bewegten Bildes herrschte absolute Stille. Es war, als hielte angesichts dieses Riesenverbrechens Amerika den Atem an. Die Leiber der Soldaten lagen, wo sie umgesunken waren
- die Wachen neben den Bunkern, die Maschinenpistole noch in der Hand, und innerhalb der Schutzmauer zwei Abteilungen in Kampfanzügen. Sie lagen in unordentlichen Haufen, die Körper kreuz und quer übereinander. Draußen, zwischen Bullion Boulevard und Haupttor, standen zwei Panzerwagen ineinander verkeilt, die schweren Maschinengewehre zum Himmel und gegen den Boden gerichtet. Aus dem Turm des einen hing der Fahrer. Verzweifelt hielt Bond Ausschau nach einem Anzeichen dafür, daß
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