Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
drückte er trotzdem die Nummer seines Onkels in die Tastatur seines Handys.
Donnerstagnachmittag
Kroll und Wiggins nahmen Staatsanwalt Reis beim Wort. Er hatte versprochen, dass es kein Problem sei, so viele Leute zu bekommen, wie sie benötigten. Die Rund-um-die-Uhr-Bewachung für Mobby, Balu und Sumo wurde tatsächlich umgehend bewilligt. Die Kommissare beschlossen, mit den betroffenen Kindern und den Eltern zu reden, um sie ins Bild zu setzen und für die kommenden Tage zu sensibilisieren. Sie beschlossen, zunächst zur Familie von Franz ›Mobby‹ Kohl zu fahren.
»Super Idee«, bemerkte Wiggins sarkastisch. »Jetzt kannst du den Eltern noch erklären, dass ihr Kind in Gefahr ist, weil es so fett ist. Und dass es deshalb sogar Polizeischutz bekommt!«
»Lass mich das nur machen. Dafür braucht man nur das erforderliche Fingerspitzengefühl.« Kroll gab sich Mühe, väterlich beruhigend zu wirken.
Wiggins verstellte seine Stimme. Er klang jetzt wie ein meckerndes Waschweib. »Guten Tag, Frau Kohl. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn sich in großer Gefahr befindet, weil er so superfett ist. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich rede jetzt nicht von Cholesterin oder Diabetes Typ II. Wir glauben, dass der Typ, der die Hand von Bach aus der Thomaskirche geklaut hat, es jetzt auf dicke Kinder abgesehen hat. Aber nicht nur auf das fette Patschehändchen, sondern auf das ganze schwabbelige Teil!«
Kroll gab sich Mühe, trotz des Lachanfalls noch auf den Verkehr zu achten. »Ich sagte doch gerade: Lass das mal lieber mich machen.«
Sie hielten vor einem großen Neubau in der Kurt-Eisner-Straße. Die Wohnung der Familie Kohl befand sich im dritten Stock. Sofort nach dem Klingeln konnten sie hören, dass sich drinnen etwas bewegte. Frau Elisa Kohl öffnete die Tür. ›Mama Mobby ‹ , war Krolls erster Gedanke. Frau Kohl war eher klein, aber keineswegs zierlich. Sie hatte halblanges, dauergewelltes Haar. Auf ihrer fleischigen Nase saß eine Brille mit runden Gläsern, die bei jedem anderen Menschen wahrscheinlich intellektuell gewirkt hätte. Ihr Kleid war eher ein Umhang, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Die Füße waren in Birkenstock-Sandalen gepresst. Sie zeigten ihre Ausweise. Frau Kohl bat sie, ihr in die Stube zu folgen. Überall roch es nach Essen.
»Sie kommen bestimmt wegen der Ereignisse im Thomanerchor«, sagte sie im Gehen. »Schön, dass auch mal jemand mit uns Eltern redet. Sind ja schließlich unsere Kinder.«
»Ja … , äh … «, stammelte Kroll. »Die Sache ist nämlich die: Es gibt schon einen konkreten Anlass, weshalb wir gekommen sind.« Er sah zum Sofa. »Können wir uns setzen?«
Elisa Kohl sah sie mit ihren kleinen Augen, die durch die Brille noch kleiner wirkten, abwartend an.
Kroll sah zu Wiggins. »Erzähl du mal weiter. Du bist doch näher an den Ermittlungen dran.«
Den kurzen, ungläubigen Blick, den Wiggins Kroll zuwarf, hatte Frau Kohl hoffentlich nicht zur Kenntnis genommen. »Ich möchte gleich zum Thema kommen. Wir erzählen Ihnen jetzt von unserem Ermittlungsstand, verbunden mit der Bitte, die Informationen, die wir Ihnen jetzt geben, streng vertraulich zu behandeln.«
Das gibt der Sache mehr Seriosität, dachte Wiggins, obwohl er jede Wette eingegangen wäre, dass es sicherlich keinen unpassenderen Ort gab, um Geheimnisse preiszugeben, als das Wohnzimmer von Frau Kohl. Er gab sich große Mühe, die Parallelen zwischen der Harras-Sage und den jüngsten Ereignissen im Chor möglichst dramatisch und authentisch darzustellen. Es schien ihm zu gelingen. Frau Kohl hörte gebannt zu und unterbrach ihn nicht. Als er von der letzten Aufgabe des Teufels erzählt hatte, machte er eine taktische Pause und wartete darauf, dass Elisa Kohl die auf der Hand liegenden Schlüsse selbst ziehen würde.
Tat sie aber nicht. »Und was hat das jetzt alles mit unserem Franz zu tun?«
Kroll beschloss zu übernehmen. »Es ist so, Frau Kohl. Die Kinder im Thomanerchor machen ja sehr viel Sport, vor allem Fußball.«
»Unser Franz ist Torwart der zweiten Mannschaft«, warf sie nicht ohne Stolz ein.
»Das ist es ja gerade«, war Kroll dankbar für die Vorlage. »Die meisten Thomaner sind wegen der vielen Bewegung sehr schlank, und wenn es um das Abnehmen in der Harras-Sage geht, dann müssen wir uns natürlich zuerst um die kümmern, die, sagen wir mal, ein wenig mehr auf den Rippen haben.«
Frau Kohl hatte verstanden. Sie überlegte einen Moment. »Da haben Sie natürlich
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