Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
»Ich kann gut verstehen, dass Sie sich große Sorgen machen. Wir nehmen die Angelegenheit sehr ernst. Es ist alles andere als eine Bagatelle, Wasser im Alumnat zu vergiften.«
Heidi Fleischer klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wie weit sind Sie denn mit Ihren Ermittlungen?«
»Es erhärtet sich immer mehr unser Verdacht, dass der Täter ein leiblicher Vater eines Thomaners sein muss. Derjenige will auf seine Situation aufmerksam machen. Vermutlich ist es jemand, der keinen Kontakt zu seinem Sohn hat oder haben darf. Es ist gut möglich, dass der Junge selbst nicht einmal weiß, dass derjenige, den er für seinen Vater hält, nicht sein richtiger Vater ist«, erklärte Wiggins.
Heidi Fleischer schien sich angesprochen zu fühlen. »Ich habe Ludwigs Vater auch mal den Kontakt zu seinem Sohn verboten. Aber das ist schon lange her. Außerdem hat sich das im Laufe der Jahre alles relativiert. Ludwig ist ja inzwischen 14 Jahre alt. Da machen die Kinder eh, was sie wollen.«
Kroll griff den Gedanken erleichtert auf. »Ihr Exmann wohnt jetzt auch in Leipzig?«
»Ja, seit ein paar Wochen, glaub ich. Aber so genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Ich habe keinen Kontakt zu ihm.«
»Hat Ihr Exmann denn Kontakt zu Ludwig?«
»Sie sehen sich ab und zu. Meist in der Innenstadt, essen zusammen Mittag. Aber allzu häufig eher nicht.« Sie lächelte. »Mein Exmann hätte keinen Grund, derartige Sachen zu veranstalten, außerdem wusste Ludwig immer, wer sein Vater ist.«
Kroll und Wiggins sahen sich an. Heidi Fleischer hatte eigentlich ihre Fragen beantwortet, bevor sie sie stellen konnten. Eine eher seltene Situation.
Sie unterbrach die kurze Stille. »Das stelle ich mir schwierig vor, den Vater eines Kuckuckskindes zu suchen. Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Wir haben natürlich die DNA des Täters«, antwortete Wiggins. »Aber die allein bringt uns nicht weiter.«
Heidi Fleischer nickte.
Kroll stellte sein Glas auf den Tisch. »Dann reden wir jetzt mal mit Ludwig.«
Sie gingen nach oben und unterhielten sich mit dem Jungen.
»Dr. Fleischer können wir als Verdächtigen wohl ausschließen«, sagte Wiggins, als sie wieder im Auto saßen. »Der hat doch nun wirklich keinen Grund, so ein Theater zu veranstalten, zumal der sich doch jederzeit mit seinem Sohn treffen kann.«
»Das sehe ich ähnlich«, bestätigte Kroll. »Was war eigentlich die nächste Aufgabe in dieser Harras-Sage?«
Wiggins holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts. »Ich habe die Seite kopiert. ›Der, der abnimmt, muss Trauer tragen‹«, las er vor.
»Hat ja echt Humor, der gute alte Herr Teufel«, scherzte Kroll.
»Wie meinst du das?«
»Na, ich meine, irgendwie sind doch alle, die abnehmen müssen, irgendwie traurig, schlecht gelaunt oder so ähnlich. Sollen wir unsere Ermittlungen jetzt bei den Weight Watchers fortsetzen?«
»Sehr witzig«, konstatierte Wiggins. »Wenn die Sache nicht so ernst wäre, hätte ich noch ein paar Kandidaten im Kollegenkreis.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Kroll.
»Vielleicht hilft uns der Hinweis ja wirklich weiter«, orakelte Wiggins.
»Inwiefern?«
»Na ja, das nächste Opfer wird mit Sicherheit kein Hungerhaken sein.«
»Und welchen Body-Maß-Index willst du anlegen? 25 oder 30?«
Kroll spürte, dass ihm seine flapsige Art allmählich selbst auf die Nerven ging. Er wusste zwar nicht, was der nächste Hinweis zu bedeuten hatte, aber es war gut möglich, dass ein Kind in Gefahr war. Trauer tragen!
»Jetzt mal ohne Quatsch, Wiggins. Unser Täter hat sich doch bis jetzt immer streng an die Abfolge in dieser Sage gehalten. Wenn wir diesmal schneller sind, haben wir ihn.«
Kroll kannte das fotografische Gedächtnis seines Partners. »Was haben wir denn für eine zeitliche Abfolge?«
Wiggins rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Er antwortete in Zeitlupentempo. »Also … die Sache mit Bachs Hand war am Sonntagmorgen, zumindest wurde sie da entdeckt. Die Aktion mit dem Wasserspender ist am Montagmorgen bekannt geworden, vergiftet hat der Täter den Spender aber bestimmt vorher.«
»Und der Weinstock?«, fragte Kroll.
»Den haben wir gestern Mittag entdeckt. Aber natürlich hat der das Unkraut-Ex schon vorher in die Erde gekippt. Das Zeug muss ja bestimmt ein paar Tage wirken.«
»Also nichts Genaues weiß man nicht. Aber eines scheint mir doch sicher zu sein. Wir haben nicht viel Zeit. Spätestens morgen müssen wir mit der
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