Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
hast. Du musst mich ja wirklich für bescheuert halten.«
»Alles, was hilft, ist doch okay.« Kroll stand auf und ging mit seinem Weinglas zu dem großen Fenster des Gründerzeithauses. Die Luft war rein. Der rote Golf war noch immer verschwunden. »Sieht tatsächlich so aus, als wäre unsere kleine Mission erfolgreich gewesen. Dein Ex scheint es jetzt wirklich gefressen zu haben.«
Anja stellte sich neben ihn und hob ihr Glas zum Anstoßen. Der helle Klang schien das ganze Zimmer auszufüllen. Ihre Stimme klang traurig. »Heißt das etwa, dass du jetzt nicht mehr wiederkommst?«
Kroll sah wieder auf die Straße und suchte dann Anjas Augen. »Wenn ich mir das so recht überlege, Stalker sind meist sehr hartnäckig. Wenn der erst merkt, dass ich nicht mehr wiederkomme, dann legt er wieder los. Wir dürfen jetzt nicht so schnell alles umschmeißen.«
»Da hast du völlig recht«, stimmte Anja nickend zu. »Und wenn ich mal ganz ehrlich sein darf«, sie errötete leicht, »so schlecht finde ich unser Spielchen gar nicht. Macht doch eigentlich Spaß, oder?«
»Dann wird es jetzt aber Zeit für Stufe zwei.«
»Stufe zwei?«, wiederholte Anja neugierig.
»Jetzt glaub doch mal einem erfahrenen Polizisten. Was soll denn dieser Typ denken, wenn er uns immer nur Händchen halten sieht? Irgendwann fliegt doch der Schwindel auf.«
Anja gab vor, ernsthaft zu grübeln. »Meinst du etwa, er könnte uns jetzt, gerade in diesem Moment, beobachten?«
»Das ist nicht auszuschließen. Wir sollten jedem Risiko von Anfang an aus dem Weg gehen.«
Anja stellte ihr Weinglas auf die Fensterbank. Langsam legte sie ihre Arme um Krolls Hals. Ihr Kopf näherte sich seinem, sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um seinen Mund zu erreichen. Es war ein langer Kuss. »Meinst du, das war jetzt überzeugend?«
Kroll schüttelte den Kopf und legte seine Arme um sie. Der nächste Kuss schien nicht enden zu wollen.
»Bleib bei mir, Kroll. Ich fühle mich so gut, wenn du da bist«, flüsterte sie in sein Ohr. Sie nahm seine Hand und führte ihn zum Sofa. »So schnell hat es bei mir noch nie gekracht.«
Anja legte sich aufs Sofa und zog Kroll zu sich. Er streichelte ihre Haare. Der Rufton seines Handys meldete sich im denkbar ungünstigsten Moment. »Lass doch einfach klingeln«, flüsterte Anja, während ihre Lippen seinen Mund suchten. Kroll zögerte einen kurzen Moment, ließ sich aber schnell von Anjas Zärtlichkeiten überzeugen. Man würde doch wenigstens am Abend mal für zehn Minuten nicht erreichbar sein dürfen. Das Handy meldete sich hartnäckig weiter, bis der Anrufer aufgab.
Nach einer halben Stunde nervte Krolls Handy erneut. Er verdrehte die Augen und sah Anja entschuldigend an. Dann drückte er auf die grüne Taste.
»Guten Abend, Herr Kommissar. Hier ist Pfarrer Brecht. Ich hoffe, ich störe Sie nicht zu so später Stunde.«
»Ich bin immer im Dienst«, beruhigte ihn Kroll und sah Anja verständnisheischend an.
»Es ist nur, weil … Also, Dr. Callidus war irgendwie unruhig und hat mich noch mal angerufen, wegen der Sache mit dem Abnehmen. Er meinte dann, es wäre besser, wenn ich gleich direkt mit Ihnen rede.«
»Ich stelle das Handy mal laut«, sagte Kroll. »Ich sitze hier gerade mit einem Kollegen.«
»Hallo, Herr Wiggins«, sagte der Pfarrer. »Also, es ist so. Die christliche Kirche hat die Geburt von Jesus Christus in die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember gelegt. Das ist die längste Nacht des Jahres und natürlich dann auch der kürzeste Tag. Bei Johannes dem Täufer hat man das umgekehrt gemacht. Seinen Geburtstag, den Johannistag, feiern wir am 24. Juni, also dem Tag der Sonnenwende. Das ist der längste Tag des Jahres und natürlich dann auch die kürzeste Nacht.«
»Verstehe«, sagte Kroll. »Aber was hat das jetzt mit Abnehmen zu tun?«
»Das ist es ja gerade. Die Geburt von Johannes dem Täufer ist am längsten Tag des Jahres. Von da an nehmen die Tage ab.«
Kroll ahnte nichts Gutes. Die Bestätigung folgte prompt. »Das Johannes-Evangelium, also ich meine jetzt den Apostel, sagt uns, dass Johannes der Täufer, nachdem er Jesus und seine Jünger im Jordan getauft hat, Folgendes gesagt hat: ›Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.‹«
Kroll fühlte sich, als hätte ihn gerade ein Blitzschlag getroffen. »Vielen Dank, Herr Pfarrer. Sie haben uns sehr geholfen.«
Er beendete das Gespräch, bevor der Pfarrer noch etwas sagen konnte.
»Wir sind so bescheuert! Das gibt es doch nicht. Warum haben wir
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