Goldmacher (German Edition)
keinen Sex mit Ihnen«, sagte sie nun und schaute ihn mit ihrem fordernden Blick an, »ich will mich mit Ihnen über die menschliche Natur unterhalten. Von Experte zu Experte.«
Er sei kein Experte, widersprach Anton.
Dann werde er eben von ihr lernen, denn sie sei eine Expertin, sagte sie.
Darauf stieß Anton jetzt mit ihr an. Sie sah auf ihre Armbanduhr, sie müsse sich gleich verabschieden, sagte sie. Er bat sie um eine erste Lektion. Sie dachte nach, schlug ihm dann vor, das zehnte Gebot zu studieren.
»Das zehnte Gebot?«, fragte er ungläubig.
Luzie lächelte und stand auf: »Aber ja.«
Anton stand auch auf und stand vor ihr. Sie sah ihn wieder mit leicht schräg gehaltenem Kopf an, so als würde sie ihn taxieren, ob er diese erste Lektion wohl lernen würde, und sie erschien ihm nun rätselhaft und geheimnisvoll. Wann sehen wir uns wieder?, wollte er sie fragen, tat es dann aber doch nicht.
2.
Bis zum Mauerfall hatte Leni die Stellung gehalten. Nach Sissis Tod, wenn es ganz schlimm um Anton stand und auch Moritz und Simon ausfielen, hatte sie versucht, seine Abstürze abzufedern und sie sowohl nach außen wie auch in der Redaktion zu vertuschen. Sie hatte seine Post beantwortet, Termine verschoben, sie abgesagt oder gar nicht erst zugesagt, hatte Intrigen im Haus aufgespürt und ein Netz von Verlässlichen geknüpft, das ihn auffangen sollte. Mit Antons fortschreitender Genesung nach dem Fall der Mauer und der Grenze zwischen Ost und West hatte es Leni dann jedoch ganz plötzlich in Richtung Osten gezogen. Eine Art Reisefieber hatte sie gepackt. Es zog sie unwiderstehlich in jene Länder, die hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang lagen.
Als sie eines Tages von einer ihrer Reisen zurückkehrte, sie war in Odessa gewesen, eröffnete sie Anton dann den Wunsch zu kündigen. Kein noch so verlockendes Vertragsangebot, das weit über die Altersgrenze hinausreichen und eigentlich als unbefristet gelten sollte, und auch nicht seine wenn auch scherzhaft ausgesprochene Drohung, durch ihren Verlust einen Rückfall zu erleiden, konnte Leni von ihrem Wunsch abbringen.
Bevor sie wieder nach Odessa aufbrach, ordnete sie ihr Leben, wie sie sagte. Tatsächlich waren es vor allem die Angelegenheiten von Anton, die sie ordnete. Sie brachte ihn dazu, das Haus an der Peripherie der Stadt zu verkaufen und ins Zentrum zu ziehen. Sie engagierte eine Mitbewohnerin, die seinen Haushalt führte. Auch ihre Nachfolge im Büro regelte sie. Eine Abschiedsfeier lehnte sie ab, ließ Anton aber am Tag ihrer Abreise durch einen Kurier ein Päckchen zustellen. Es enthielt einen flachen Fotokarton.
Lange wog Anton ihn in den Händen, bevor er es wagte, ihn zu öffnen. Fotos weckten Erinnerungen, und er scheute Erinnerungen noch immer. Er wollte nicht mehr zurück, er wollte nur noch nach vorn schauen.
Es waren Schwarz-Weiß-Fotos, genau genommen Vergrößerungen von Schwarz-Weiß-Fotos. Deutlich sah Anton jetzt die Originale vor sich. Sie waren sehr viel kleiner gewesen. Leni hatte die Fotos 1946 mit der Leica von Onkel Alfred aufgenommen. Sie zeigten ihn oder Leni, auf manchen der Fotos sah man sie auch zusammen, meistens waren sie nackt. Es waren die Fotos aus jenem heißen Sommer ihrer ersten Liebe.
Wie jung wir damals waren, dachte Anton. Und wie schön. Und wie frei. Lange betrachtete er nun jedes einzelne der Fotos. Und einige der Gefühle, die ihn damals umtrieben, wurden wieder wach, er erinnerte sich an das Versprechen einer Zukunft, einer neuen Zeit, und plötzlich auch an die erste Lektion, die ihm Luzie Mayer, die frühere Geliebte von Franz, wie einem Schüler aufgetragen hatte.
Er trat an sein Bücherregal und suchte nach der Bibel. Wie lange schon hatte er nicht mehr in der Bibel gelesen? Dass er die Werke des Teufels vernichten wolle, hatte er der Mutter in kindlichem Allmachtsgefühl geschworen, Gott erschien ihm damals seinem Widersacher unterlegen. Jetzt nahm er die Bibel aus dem Regal, schlug sie auf und suchte das zehnte Gebot.
Als hätte sie gewusst, dass er dort auf sie warte, habe sie in Odessa einen Mann kennengelernt, den sie heiraten wolle, schrieb Leni in ihrem ersten Brief an Anton. Dieser Mann sei Witwer, Vater von fünf erwachsenen Kindern, von denen einige bereits selbst wieder Kinder hätten. Sie habe eine große Familie für sich gefunden, und es hätte sich gelohnt, mit dem Heiraten zu warten, erklärte sie in einem weiteren Brief.
Zur Hochzeit wünschte sie sich von Anton einen VW -Bus. Einer
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