Goldmacher (German Edition)
nach nebenan in sein Arbeitszimmer gegangen. Er wollte die Bibel aus dem Bücherregal nehmen und Markus 3,23–26 nachlesen, doch sein Blick blieb an dem hellen Einband mit der Goldschrift hängen, und er hatte danach gegriffen statt nach der Bibel. Er hatte sich in den Sessel gesetzt und ihn seit Jahren zum ersten Mal wieder aufgeschlagen, den Bericht des großen Thukydides, wie er den griechischen Geschichtsschreiber, den Gott aus seiner Schulzeit, noch immer insgeheim nannte. Lange hatte er nicht mehr in dem monumentalen Werk über nicht endende Grausamkeiten, Schrecken, Rivalitäten und über die nicht endende, das alte Griechenland zerstörende Rache gelesen. Jetzt tat er es, und obwohl ihn irgendwann die Müdigkeit zu überwältigen begann, suchte er jetzt doch noch in der Einleitung nach jener Begründung des Autors für den Nutzen seines außerordentlichen Unterfangens, die in ihm einst den Funken entzündet, ja, ihm selber den Grund gegeben hatte, an seiner Chronik über den Untergang zu schreiben, die unvollendet geblieben war.
Diese Begründung des Thukydides, die er im Laufe seines Lebens immer wieder anders, immer wieder neu gelesen und verstanden hatte, überraschte ihn auch jetzt: »Wer das Gewesene klar erkennen will und damit das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird«, an dieser Stelle hatte er innegehalten und etwas in ihm hatte rebelliert. Immer heftiger rebelliert, ja, ein Aufruhr war losgebrochen: Was wissen wir denn schon wirklich von ihr, von der menschlichen Natur?, hatte er sich plötzlich gegen den griechischen Gott seiner frühen Jahre aufgelehnt. Lange hatte er, wie auf eine Antwort von Luzie wartend, in sich hineingehorcht.
Man habe erst seit Kurzem damit begonnen, die menschliche Natur zu erforschen, hörte er jedoch schließlich Sissi aus weiter Ferne sagen, ein langer Weg liegt noch vor uns. Gehen wir ihn weiter!, hatte er sie daraufhin aufgefordert.
Und dann war er, nun überhaupt nicht mehr müde, in Gedanken immer weiter zurückgegangen, bis er bei dem siebenjährigen Jungen angekommen war, der einst das Licht in seine verfinsterte Welt bringen wollte. Er hatte ihn wie eine Puppe in einer Puppe in einer Puppe gesehen, und die äußere Puppe, das war er, der grauhaarige, jetzt siebenundsiebzigjährige Anton Bluhm gewesen, ein ausgedienter Zurvernunftbringer, jetzt ein Zukunftsbekümmerer.
Anton richtete sich in seinem Stuhl auf, beugte sich vor und griff nach seinem Füllfederhalter. Er schaute wieder auf die spitze Feder. Was, wenn sich die Tinte zu einem Lichtstrahl wandeln würde, in eine Lichtwaffe, mit der die wieder zunehmende oder immer noch anhaltende Dunkelheit aus den Köpfen vertrieben werden könnte? Sagen, was wahr ist, hörte er eine Stimme in sich. Er drückte die spitze Feder leicht gegen das leere Blatt und schrieb den ersten Satz.
Ende
Obwohl dieser Roman sich hin und wieder autobiografischer Bezüge bedient, ist Goldmacher ein Werk der Fiktion, von den beiden Protagonisten Franz Münzer und Anton Bluhm über die anderen Mitglieder ihrer Familien bis hin zu allen weiteren Akteuren des Romans. Und obwohl es 1924 in Bayern tatsächlich einen Goldmacher und eine Produktionsgesellschaft zur Herstellung von Gold gegeben hat, sind der hier beschriebene Goldmacher sowie und die Produktionsgesellschaft, sind alle daran beteiligten Personen eine romanhafte Fantasie.
© by Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2012
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© Originalausgabe: by Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2012
Cover und Illustrationen von Felix Reidenbach, www.2d3d4d.de
E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2012
ISBN 978-3-03790-034-5
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