Goldmacher (German Edition)
der Fahrer aus dem Blatt fuhr das Hochzeitsgeschenk nach Odessa und kehrte mit Fotos zurück. Eines zeigte das Brautpaar, Leni im weißen Kostüm, ihren Mann in einem schwarzen Anzug inmitten von Kindern und Enkelkindern. Man hätte die Brautleute auch für ein Paar halten können, das goldene Hochzeit feiert, wäre nicht das Strahlen auf ihren Gesichtern gewesen. Lenis Nachfolgerin im Büro ließ das Foto einrahmen, es stand nun zwischen vielen anderen auf Antons Schreibtisch.
An diesem Morgen fiel sein Blick auf das Foto und er empfand, wie schon beim ersten Mal, als er es gesehen hatte, so etwas wie Neid angesichts der Fruchtbarkeit dieses Mannes inmitten seiner vielen Kinder und Enkelkinder. Und nun hatte er auch noch Leni, seine Leni zur Frau bekommen.
Je länger sein Blick an dem Foto hängen blieb, umso neidischer wurde Anton, er dachte nun an seine eigenen, noch unverheirateten Söhne. Immerhin waren Moritz und Simon inzwischen vierundzwanzig Jahre alt. Und nun stellte er sich vor, eines gar nicht mehr allzu fernen Tages würde auch er, wie der Mann von Leni, von seinen Söhnen und Schwiegertöchtern und seinen Enkelkindern umringt sein. Vielleicht schon an seinem siebzigsten Geburtstag? Wohl eher an seinem fünfundsiebzigsten, rechnete sich Anton aus. Und wurde nun ganz plötzlich von einer drängenden, ihn bedrängenden Unruhe, ja, von einer ihn fast überwältigenden Ungeduld erfasst: Er musste so vieles nachholen, was er in den vergangenen Jahren versäumt hatte! Augenblicklich griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Moritz in Berlin. Doch er hörte nur den Anrufbeantworter und legte ungeduldig auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Als er am späten Nachmittag Moritz erreichte, war Anton dann bereits in Berlin.
Er warte in der Hotellobby auf ihn, sagte er am Telefon, er habe einen Tisch im Restaurant des Hotels reserviert, er müsse mit ihm über die Zukunft sprechen.
»Du hier! Das ist ja großartig!«, rief Moritz begeistert.
Er schlug vor, ihn abzuholen und nicht im Hotel am Kurfürstendamm zu Abend zu essen, sondern ein neu eröffnetes italienisches Restaurant im Ostteil der Stadt aufzusuchen.
»Das ist der richtige Ort, um über die Zukunft zu sprechen«, verkündete er. Anton war überrascht über das ungewohnte Pathos in Moritz’ Stimme.
Wenig später, Moritz wohnte unweit des Hotels, saß Anton neben seinem Sohn im Auto und wurde von ihm aus dem hell erleuchteten Westen Berlins in den vergleichsweise dunklen Osten hinübergefahren. Dies sei der ehemalige Potsdamer Platz, erklärte Moritz die große, freie Fläche, die sie beim Übergang von dem einen in das andere Berlin überquerten. Es war eine Slalomfahrt um Schlaglöcher und Geröll. Auch auf der vom Potsdamer Platz abzweigenden Leipziger Straße wurde der Wagen mit seinen beiden Insassen immer wieder heftig durchgeschüttelt. Nach einer weiteren Abzweigung hielt Moritz vor einem mächtigen Gründerzeitbau und zeigte nach oben: »Dort im dritten Stock werde ich Büroräume anmieten«, erklärte er.
»Wofür?«, fragte Anton höchst erstaunt.
»Erzähl ich dir gleich beim Essen«, antwortete Moritz, gab Gas und fuhr tiefer hinein in den Anton wenig bekannten Ostteil der Stadt.
»Hier siehst du ein prächtiges Beispiel für die berühmte Plattenbauweise der DDR , mal mit, mal ohne Ornamente«, erklärte Moritz und wies im Vorbeifahren auf ein pompöses Gebäude mit kuriosen Andeutungen von Säulen und Bögen und der Leuchtschrift »Friedrichstadt-Palast«.
Sie kamen nun durch schwach beleuchtete Straßen ohne Autoverkehr, passierten Häuser, deren Fassaden Kugel- oder Splittereinschläge aus dem Zweiten Weltkrieg konserviert hatten. Sie schienen seitdem oder sogar seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht renoviert worden zu sein. Überall gab es Baulücken, in manchen Straßen fehlten ganze Häuserzeilen. Die Fahrt dauerte lang. Moritz gab zu, sich verfahren zu haben, fand irgendwann dann aber doch noch aus dem dunklen Straßengewirr hinaus und zum Platz der Republik. Und da war die dunkle Stadt plötzlich von einer großen hellen Leere wie verschluckt. Moritz hielt mitten in dieser großen hellen Leere an, und sie stiegen aus dem Wagen.
»Ein Landeplatz für Ufos«, meinte er und malte aus, wie hier alle auf die Ufos gewartet hätten, die Funktionäre, die fahnenschwingenden FDJ ler, die amtierenden und ehemaligen Jungen Pioniere.
»Nicht leicht, sich das vorzustellen«, meinte Anton nur, und sie stiegen
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