Goldmarie auf Wolke 7
Dr. Hahn, der seinen Kopf aus dem Behandlungszimmer steckte und mich neugierig beäugte. Keine Ahnung, ob er nur Mitleid mit mir hatte oder ob er es beim letzten Mal einfach vergessen hatte – jedenfalls bekam ich heute eine Tasse Tee kredenzt, für dessen Zubereitung er das Wasser aus dem silbernen Samowar holte. »Schmeckt köstlich«, lobte ich und Dr. Hahn lächelte zufrieden. »Diese russische Winterteemischung erweckt selbst Tote zum Leben«, sagte er und deutete dann fragend auf meinen Verband. So wiederholte sich die Szene von letzter Woche. Begleitet von abgrundtiefen Schluchzern erzählte ich, was passiert war, und gestand, dass ich es aufgrund dieses Vorfalls nicht mehr geschafft hatte, den Brief an meinen Vater zu schreiben. Dabei fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das dem Klassenlehrer beichtete, dass es seit einer Woche keine Hausaufgaben mehr gemacht hat. »Diese Dinge passieren nie ohne Grund«, entgegnete Dr. Hahn und nickte.
Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer, was er mit diese Dinge meinte (Unfälle mit Brotschneidemaschinen doch wohl kaum, oder wie?), deshalb wartete ich gespannt ab, was er weiter dazu sagen würde. »Wie schon der liebe Albert Einstein sagte: ›Gott würfelt nicht!‹ Und was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde den Brief nachholen, sobald ich Zeit dafür habe«, versprach ich eifrig, doch Dr. Hahn schüttelte den Kopf. Mist, was meinte er denn? Dieser Besuch erwies sich als weitaus anstrengender als gedacht. Ich überlegte und überlegte wie eine Kandidatin in einem Quiz kurz vor der Eine-Million-Frage. Allerdings hatte ich schon sämtliche Hilfsmöglichkeiten verdaddelt und der Telefonjoker war gerade mit unbekanntem Ziel verreist. Blöd! Doch irgendwann platzte der Knoten in meinem Kopf: »Ich werde kündigen. Und zwar sobald ich hier raus bin!« Ups, hatte ich das eben wirklich gesagt ? Womit sollte ich denn dann künftig Geld verdienen? Es war schon schwer genug gewesen, den Job bei Ludmilla zu ergattern.
Wenn ich erwartet hatte, dass der Therapeut jetzt einen Jubelschrei ausstoßen, vom Stuhl springen und mich zu dieser sensationellen Eingebung beglückwünschen würde, so hatte ich mich getäuscht. Anstelle einer Antwort schob er seine Brille so lange auf dem Nasenrücken hoch und runter, bis ich Angst bekam, sie könne kaputtgehen. »Wir sagen, dass Selbstverantwortung der Schlüssel zu allem ist. Nur wer sein Schicksal eigenständig in die Hand nimmt, kann sich dauerhaft aus der Opferrolle lösen.« Schon wieder dieses ominöse wir .
Litt Dr. Willibald Hahn etwa an einer gespaltenen Persönlichkeit? Doch sosehr ich innerlich über diese Vorstellung lachen musste (Jetzt war mir auch klar, weshalb jeder Psychologe einen eigenen Therapeuten brauchte), an der Aussage war wirklich was dran. Ich würde mir nicht länger gefallen lassen, dass die Drachenlady mich behandelte wie den letzten Dreck und in ihren hässlichen Klauen gefangen hielt.
Mit einer Mischung aus Angst (Was würde Kathrin zu meiner Entscheidung sagen?) und Freude stellte ich mich nach Verlassen der Praxis an die Bushaltestelle am Goldbekplatz und spielte mit dem Herbstlaub, das unter meinen Schuhen knisterte. Plötzlich fühlte ich mich so frei, wie schon lange nicht mehr. Ich würde die kommenden Wochen genießen und endlich wieder Zeit haben, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen. Mit Finja würde ich Schlittschuh laufen gehen, mit Julia Kekse backen und Pulswärmer stricken. Ich hätte Zeit, Weihnachtsgeschenke zu basteln, anstatt sie zu kaufen. Zum Glück hatte es bei dem Unfall nur die Fingerkuppe der linken Hand erwischt, weil ich offenbar einen Schutzengel gehabt hatte. Versonnen schaute ich auf das hell erleuchtete Schaufenster von Home & Garden, einem Laden für Möbel im Landhausstil, der auf der anderen Straßenseite lag. Er war in einem alten Fabrikgebäude untergebracht, das eine grandiose Kulisse für diese Art der Inneneinrichtung bot. In so einem Laden müsste man arbeiten , dachte ich träumerisch, als auf einmal Reifen quietschten und jemand wie verrückt hupte. Dann sah ich im Lichtkegel des Autoscheinwerfers, wie ein pelziges Etwas auf den gegenüberliegenden Bürgersteig geschleudert wurde. Oh mein Gott, das war doch nicht etwa ein Eichhörnchen, das herabgefallene Bucheckern aufgesammelt hatte?! Ohne weiter nachzudenken, sprintete ich auf die andere Straßenseite und sah, wie sich das Tierchen aufrappelte, loslief und in der Dunkelheit des alten Fabrikgemäuers verschwand.
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