Goldmarie auf Wolke 7
Ich überlegte. Was, wenn es so schwer verletzt war, dass es irgendwo unbemerkt verendete, bloß weil niemand es fand? Nur weil es aufgesprungen war, bedeutete das schließlich nicht, dass es auch wirklich unversehrt war. Entschlossen zu helfen, folgte ich der Fährte auf gut Glück. Dass es um diese Uhrzeit bereits dunkel war, erschwerte die Suche natürlich, doch ich wollte nicht aufgeben. Alle anderen Passanten waren einfach weitergegangen, als sei nichts passiert, und auch der Autofahrer hatte nach seinem abrupten Bremsmanöver einfach wieder aufs Gaspedal getreten.
Ich stolperte durch die Dunkelheit, kletterte einem inneren Gefühl folgend über den nächsten Zaun und befand mich schließlich in einem Hinterhof, der nur durch den Lichtschein aus einigen Fenstern erhellt wurde. Als ich den antiken Brunnen sah, glaubte ich zunächst an eine optische Täuschung, so verzaubert sah dieser Ort aus. Doch er war real und traumhaft schön.
Das Becken selbst war schlicht gemauert, doch die Figur in der Mitte wirkte antik und kunstvoll gestaltet. Es war eine zierliche Frau, um deren Schulter eine fein gemusterte, griechische Toga geschlungen war. In der rechten Hand hielt sie einen überdimensional großen Schlüssel, am linken Arm einen Obstkorb. Auf ihrer kunstvoll geflochtenen Frisur thronte wie eine Krone ein steinernes Schloss. Die Brunnenkönigin selbst stand mit einem Bein auf einem liegenden Löwen, mit dem anderen auf dem Brunnenrand. Den Löwen schien das überhaupt nicht zu stören, denn er lächelte.
Während der Stein an vielen Stellen dunkelgrau verwittert und bemoost war, schimmerte das Becken in goldenem Glanz. Bevor ich nach einem Froschkönig Ausschau halten konnte, hörte ich es dicht neben mir rascheln. Ich bückte mich und sah plötzlich das Tierchen, nach dem ich gesucht hatte. Es schaute mich mit dunklen Knopfaugen an und zitterte dabei wie Espenlaub. Ohne zu wissen, ob das eine wirklich gute Idee war, hob ich es auf, drückte es an meine Brust und streichelte sein pelziges Köpfchen. Dann rief ich per Handy die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer eines tierärztlichen Notdienstes.
»Ist Honeypie etwas passiert?«, hörte ich auf einmal eine Stimme, die zu einer älteren Dame gehörte. Ihr schneeweißes Haar war zu einem Knoten geschlungen und sie wirkte, als sei sie direkt aus den Seiten eines Märchenbuchs geschlüpft.
Ich nahm das Handy vom Ohr, drückte den Aus-Knopf und schaute die Dame verwundert an. Behutsam nahm sie mir das Tierchen vom Arm, flüsterte ihm in einer mir unverständlichen Sprache etwas ins Ohr und lächelte mich schließlich freundlich an. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich um meinen Liebling gekümmert haben. Die Kleine ist ausgebüxt und ich habe mir schon große Sorgen gemacht.«
»Sie wurde von einem Auto angefahren und sollte deshalb dringend zum Tierarzt«, erklärte ich und konnte mich kaum vom Anblick der beiden lösen.
Was war Honeypie für ein Tier?
Es ähnelte einem Marder und war unheimlich knuffig.
Die Fremde legte die Stirn in Falten, nickte und streichelte das pelzige Wesen. »Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich um meine Süße gekümmert haben?«, fragte sie und ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ein Teil von mir glaubte zu träumen. »Ach was, das hab ich doch gern gemacht. Hauptsache, es geht Honeypie bald wieder gut.«
»Haben Sie vielleicht Lust, morgen Nachmittag zum Tee zu mir zu kommen? Ich würde Sie ja auch jetzt sofort einladen, aber ich möchte mein Frettchen schnellstens zum Tierarzt bringen.«
Ich nickte und murmelte: »Gern.« So also sahen Frettchen aus.
»Dann kommen Sie doch morgen gegen vier vorbei und melden Sie sich in meinem Laden Traumzeit, gleich neben Home & Garden . Ich heiße übrigens Nives Hulda.«
»Ich bin Marie Goldt, aber Sie können mich sehr gern einfach nur Marie nennen und duzen«, antwortete ich, ganz überwältigt von dieser unverhofften Begegnung.
Honeypie und Nives waren ein seltsames Paar.
Aber ich hatte große, große Lust, die beiden näher kennenzulernen.
11. Lykke Pechstein
(Mittwoch, 16. November 2011)
Dear Diary,
halleluja, endlich haben sich die lahmen Schnecken vom Acker gemacht! Hab schon gedacht, ich müsste mich ewig an der Straßenecke rumdrücken und mir ’ne Lungenentzündung holen, bloß weil die sonst so überkorrekte Marie heute ausnahmsweise mal nicht in die Gänge gekommen ist. Und weil Ma heute beim Styling für das millionste Vorstellungsgespräch
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