Goldmond
habe nur noch die Hälfte von dem Getreide«, sagte er nachdenklich. »Es hätte länger reichen müssen. – Wir brauchen zu lange.«
Sanara antwortete nicht sofort. Sie streckte die Hand aus und strich über seinen Arm. »Bereust du, dass wir es mit der Reise so langsam angehen?«, fragte sie nach einer Pause.
Es war das erste Mal, dass sie beide darüber sprachen, dass sie selbst nach über einem Zehntag noch zwei, vielleicht drei Tagesreisen vom Gipfel des Seleriad entfernt waren. Sie wussten beide, dass sie das Heiligtum längst hätten erreichen müssen.
Aber seit dem ersten Abend der Reise hatten weder Sanara noch Telarion es besonders eilig gehabt. Zu groß war das Glück, endlich zueinander gefunden zu haben und nicht nur das Wissen um das zu teilen, was sie gemeinsam geträumt hatten, sondern es auch jeden Tag erleben zu dürfen und es vor keinem Wesen der Welt verstecken oder rechtfertigen zu müssen.
Es war Telarion, als würde dieser wundervolle Zustand einEnde haben, sobald das Heiligtum der YS erreicht sei und sie das Siegel gefunden hätten – auch wenn es keine Anzeichen dafür gab, dass es so sein würde. Und obwohl sie es nicht aussprach, war er sicher, dass Sanara ähnlich dachte. So suchten sie beide jeden Abend schon lange vor Untergang der Weißen Sonne einen Platz, an dem sie bleiben und ihre Zweisamkeit genießen konnten. Nie entfernten sie sich weit voneinander, nie sprachen sie von der Furcht, dass sie beide am nächsten Morgen, nach einer gemeinsamen Nacht, in der sie sich nahe gewesen waren, durch ihr Zögern vielleicht von den Häschern der Königin entdeckt werden könnten.
Telarion löste behutsam die Finger, die sich um seinen Oberarm schlossen, und drückte seine Lippen kurz auf ihre Handfläche, bevor er sie losließ. »Wie könnte ich einen einzigen Augenblick bereuen, den ich mit dir verbringe?«, sagte er, ohne sie anzusehen. In seinen Gedanken tauchte das Bild von ihr als Gefangene auf, eine Dari in elbischer Reisekleidung, mit ausgekämmten Haaren von der Farbe eines reifen Weizenfelds, die ihr über den Rücken fielen. Jetzt, wenn er zurückblickte, wusste er, dass er sich als Heermeister nach den Aufgaben des Tages nach ihr gesehnt hatte. Als sei nicht er derjenige, der ihr Kraft nahm, sondern als sei umgekehrt sie es, die sie ihm schenkte.
Plötzlich spürte er ein Gewicht auf seinem linken Bein. Als er überrascht nach unten sah, bemerkte er, dass sie ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet hatte.
»Mir geht es ähnlich. Seit ich dich im Verlies das erste Mal sah, ließ dein Wind mein Feuer auflodern.« Ihre Stimme klang nun verträumt.
Überrascht hielt er den Atem an, bevor er sanft die Hand auf ihr Gesicht legte. »Ich wusste nicht, dass du mich bemerkt hattest«, sagte er.
»Zuerst nicht«, sagte sie leise. »Ich war zu erschöpft. Dann war da Tarind.« Sie machte eine Pause. »Er roch nach frischem Regen, schwer und feucht. Es löschte mein Feuer. Doch du warst trockenund kalt. Ich lernte erst allmählich, Euch von Eurem Zwilling zu unterscheiden, Daron Elb.«
Wieder wurde Telarion das Wunder bewusst, das Ys gewirkt hatte. Sie hätte ihn hassen müssen, nach allem, was er und sein Bruder ihr und ihrer Familie angetan hatten. Dass sie es verziehen hatte, sich von ihm berühren ließ; dass er, Telarion, Bruder des Mörders ihrer Familie, diesem Geschöpf des Sommers, in dem das Leben seinen Höhepunkt erreichte, nah sein durfte … erfüllte ihn mit Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Er lehnte sich an den Felsen in seinem Rücken. Sie richtete sich auf, um ihn freizugeben, doch er ließ sie nicht fort. Er legte einen Arm fordernd um ihre Taille und zog sie an sich. Ihr Körper war zerbrechlicher als der einer Elbin, kleiner und fragiler, und schien doch von festerer Substanz und irgendwie materieller zu sein, als berge er die Erde in sich, aus der ihr Volk einst geformt worden war. Er genoss die Schwere ihres Gewichts auf seiner Brust, die Wärme, die von ihr auf ihn überging, das Aufwirbeln seines Seelenwinds, als ihre Hitze sein Herz erreichte. Er konnte nicht erwarten, sie noch näher bei sich zu spüren, so nah, bis Körper und Geist miteinander verschmolzen, und lenkte ihren Mund an seinen.
Doch sie keuchte leise auf und löste sich. »Wo ist die Selbstbeherrschung des königlichen Hausverwalters?«, wollte sie wissen.
Er unterbrach den Kuss nur halbherzig. »Ich bin titellos. Es gibt keinen Ruf mehr, den ich wahren müsste.«
Sie lachte in seine Lippen hinein
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