Goldmond
bedeckt war.
Eine davon, an den Enden mit Silber beschlagen und mit violetten Siegeln und Bändern aus Seide besetzt, mit denen man sie schließen konnte, nahm Varashti hoch.
»Eine Abschrift der Ersten Rolle der Schriften«, sagte sie und gab sie Sinan in die Hand. »Kannst du lesen?«
Statt einer Antwort nahm Sinan sie an sich und entrollte sie vorsichtig.
»Von der Entstehung der Welt«, las er vor. »Vor undenklichen Zeiten existierte nur das Chaos, in dem Ys, der Geist der Harmonie, und Syth, der Geist der Veränderung, um die Vorherrschaft kämpften. Das Chaos existierte in einem Ei, doch es war zu eng für Ys und Syth, denn Ys war ein Geist des Gleichgewichts und der Ruhe und immer bestrebt, die Dinge zu glätten, während Syth die Neuschöpfung und die ständige Veränderung liebte. Jeder von ihnen kämpfte lange Zeit um den Sieg, doch keiner konnte die endgültige Herrschaft erringen. Schließlich wurde das Ei zerstört und die Energien der Schöpfergeister wurden freigesetzt. So entstanden durch die Kräfte von Ys und Syth Meer und Land, Licht und Dunkel, Schöpfung und Verderben.
Ys und Syth betrachteten die geschaffene Welt und sahen, dass die Kraft eines jeden von ihnen in ihr Form und Gestalt angenommen hatte. So gehörte ihnen die Welt und die Herrschaft darüber. Als Wohnstatt wählten sie den höchsten Berg des Zendar-Gebirges, den Berg Seleriad, von dem aus sie das Land überblicken konnten, und während Ys die Gestalt eines Silbernen Mondes annahm, wurde Syth zu einer strahlenden Roten Sonne, sodass sie nacheinander Licht und Dunkel beherrschen konnten. Denn auch wenn die beiden Geister unterschiedlicher nicht sein konnten, liebten sie einander doch sehr und waren unglücklich, wenn sie stritten. Auch wussten sie, dass die Welt ihnen gemeinsam gehörte und keiner den anderen ausschließen durfte.«
Sinan hielt inne. Schweigen breitete sich zwischen ihm und der Priesterin aus.
Schließlich ergriff Varashti wieder das Wort. »Willst du Syth immer noch um die Kraft deiner Hand bitten?«
Sinan antwortete nicht, sondern starrte die feinen Schriftzeichen auf der Rolle an. Es waren alte, schwungvolle Buchstaben, die mit einem jungen Rohr der Süßholzpflanze oder Wasserschilf geschrieben waren; ersonnen von den ersten Kindern des Vanar, die dieser in dem Landstrich geschaffen hatte, den man heute den Hochwald von Norad nannte. Erst später hatten sich die einzelnen Häuser abgespalten, und immer noch galten die Elben, die rund um den Palast der Stürme bei Darkod lebten, als etwas Besonderes, selbst unter den Kindern des Goldmonds.
Sinan kannte die Geschichte der Buchstaben, man hatte ihm im Heiligtum des Abends beigebracht, sie zu lesen. Jetzt kamen sie ihm wie ein Hinweis auf das vor, was er erreichen wollte. Seine Miene verhärtete sich.
Der Shisani blieb das nicht verborgen. »Es scheint mir, als wüsstest du, was Syth dir anbietet.«
Sinan nickte langsam. »Er zeigt mir einen Weg zur Heilung. Aber ich weiß jetzt auch, was er dafür verlangt.«
Varashti schwieg eine Weile. »Und es scheint, als gefiele es dir nicht.«
Sinan legte die Rolle behutsam zurück auf den Tisch. »Das weiß ich noch nicht. Mein Tod hat vieles geändert.« Er verneigte sich kurz vor der Shisani, die ihn nachdenklich ansah. »Ich werde bedenken, was Ihr mir über den kämpferischen der beiden Schöpfergeister sagtet. In dieser Eigenschaft fühle ich mich ihm verbunden.«
Varashti erwiderte den Gruß. »Berichte mir, ob dir zu finden gelang, was du suchtest.«
Sinan blickte hinaus auf die überlebensgroße Statue des Syth, die er nun von hinten sah. Der Krieger wirkte aufrecht und stolz. Da war kein Kummer darüber, dass er der Schöpfer und Verursacher aller Zerstörung und allen Chaos genannt wurde. Er war, was er war. Er änderte.
Er wandte sich wieder Varashti zu. »Eine der verlangten Änderungen, Shisani, muss darin bestehen, dass ich diesen Ort verlasse. Ich weiß nicht, ob ich wiederkehre. Aber ich werde Euch und Euren Rat in Erinnerung behalten, denn er hat mir sehr geholfen. Lebt wohl.«
»Lebt wohl«, erwiderte Varashti. »Vergesst nie, dass Syth zwar die Änderung liebt. Doch er liebt auch die Welt und Ys selbst. Er wird – und kann – beides nicht zerstören. Er wird nie zulassen, dass ihnen etwas geschieht und die Dinge so lenken, dass sie erhalten werden.«
Sinan nickte ein letztes Mal und ging. Vor der Statue blieb er noch einmal stehen, schlug das Zeichen und verließ den Tempel.
Es gab nur
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