Goldmond
wenige Schritte voraus, blieb ihr aber so nah, dass er ihr aufhelfen konnte, wenn sie strauchelte, und sie sich zur Not festhalten konnte. Der Pfad war steiler geworden, und nun, da keine Wurzeln von größerem Strauchwerk oder Bäumen der Erde Halt gaben, wurde er gefährlicher. Dennoch gönnte Telarion Sanara keine Rast, und der Weg erwies sich als so schwer, dass der Himmel sich wieder dunkelrot färbte und die letzten Strahlen der Purpursonne nur noch die höchsten Gipfel der Umgebung anleuchteten, als er anhielt und auf einen dunklen Fleck wies, der sich an einer Felswand gegenüber verbarg.
»Wir müssen nur noch über die Brücke dort«, erklärte er. »Dann können wir rasten.«
Es war beinahe das Erste, was er an diesem Tag zu ihr sagte, doch Sanara lächelte kurz. Sie war entschlossen durchzuhalten. Er belohnte das Lächeln, indem er die Hand ausstreckte, sie an sich zog und sie küsste.
Die Nacht verlief schweigsam, doch diesmal versäumte Telarion es nicht, sie in die Arme zu ziehen. Er liebte sie, als sei er so in der Lage, ihr von seiner schier unerschöpflichen elbischen Kraft etwas abzugeben, und als sie das erwidern wollte, hinderte er sie daran. »Du wirst es brauchen«, murmelte er. »Du bist die, die diese Welt verlassen muss, um das Siegel zu suchen.«
Sanara ließ ihn gewähren. Sie würde alles nehmen, was von ihm und damit von Ys kam. Wer wusste schon, wie viel sie noch bekommen würde. Vielleicht würde Syth morgen oder noch in dieser Nacht alles zerstören.
Telarion weckte sie viel zu früh. Der Silbermond war noch nicht hinter den fernen Bergkämmen verschwunden, da hatte er bereits die Frühstückssuppe fertig.
»Iss«, sagte er. »Wir müssen aufbrechen.«
Sanara gehorchte.
Die Weiße Sonne fand die beiden Wanderer bereits dicht unter dem Gipfel, als sie aufging. Sie hatte sich bereits angekündigt, derHimmel war blasser geworden, doch noch waren Sterne hinter einzelnen Wolkenfahnen zu sehen. Als die ersten hellen Sonnenstrahlen über den Gipfeln der Berge aufgingen, blieb Sanara unwillkürlich stehen und schloss geblendet die Augen. Sie waren so dicht unter dem höchsten Punkt des Seleriad, dass keine Felsen und auch keine Berge das Licht auffingen, und so fiel es Sanara direkt ins Gesicht.
Wind kam auf. Er war schneidend kalt, so als wehe Sanara ein Schleier aus Eiskristallen über die Wangen.
»Komm weiter.«
Telarions Stimme war sanft, und verwirrt kletterte Sanara weiter. Jetzt spürte sie unter den festen Stiefeln, die sie trug, dass der steinige Pfad steilen Stufen Platz gemacht hatte. Dann war es wieder so schattig, dass sie die Augen öffnete. Erneut blieb sie erstaunt stehen. Der Weg führte durch eine kleine Schlucht und war von Felswänden rechts und links eingeschlossen. Die Wände waren von dunklem Grau, Granit, das winzige moosgrüne und silbrig glitzernde Einschlüsse hatte. Sinan hatte ihr einst gesagt, dass es ein bestimmter Stein sei, mit dem man hauptsächlich die Ys ehrte. Er war dauerhaft, selten und wurde nur in den östlichen Zendarbergen gefunden, die dem Meer nah waren.
In den Stein eingelegt waren Felder aus einem anderen, rein weißen, beinahe durchsichtigen Material. Alabaster. Bilder von der Schöpfung der Welt waren auf dem polierten Stein zu sehen, leicht erhaben gearbeitet – die Erschaffung der Sterne, die Schöpfung des Himmels und der Meere, eine Geburt: die Entstehung von Vanar und Akusu, den Mondzwillingen.
Sanara blieb vor ihnen stehen und neigte kurz den Kopf, bevor sie weiterging.
Einen Schritt weiter schloss sie wiederum geblendet die Augen. Sie ging jedoch weiter die Stufen hinauf – bis sie plötzlich ins Leere trat.
Sie blinzelte. Und hielt den Atem an.
Sie kannte den Ort.
Sie war auf einer weiten Ebene angekommen, die den Gipfel des Seleriad bildete. Flach, gerade und glatt erstreckte sich das Heiligtum vor ihr, ein riesenhaftes, perfektes Rund von sicher dreißig oder vierzig Klaftern Durchmesser. Es war mit Kacheln aus silbrigem und weißem Glasfluss belegt, jede der Kacheln griff auf geschwungene Weise in die andere und schien sie zu ergänzen, und jedes einzelne Motiv schien nur mit einem anderen einen Sinn zu ergeben und perfekt zu sein. In der Mitte der wunderschön verschlungenen Muster stand das steinerne Abbild einer langhaarigen Frau in weitem Gewand. Jeder Zipfel, jeder Saum, jede Strähne schien in der Brise, die hörbar über die weite Fläche sang, zu flattern, und doch war deutlich, dass es aus rein weißem
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