Goldmond
Marmor gebildet war. Vor ihr war ein kleiner Altar zu sehen, auf dem eine hohle Alabasterkugel lag, die in den gleichen Mustern, wie sie den Boden schmückten, durchbrochen war.
Umgeben war die Fläche von unzähligen Säulen, die vielleicht sechs Klafter oder mehr in die Höhe ragten. Sie standen nicht dicht an dicht, sondern ließen den Blick auf die Welt unter ihnen zu, auf die Sonnen darüber. Und erst jetzt sah Sanara, dass der Silbermond immer noch nicht ganz untergegangen war, obwohl die Strahlen der Weißen Sonne die Bodenkacheln bereits aufglänzen ließ.
Es war wie in der Vision, die sie zusammen mit dem Fürsten der Elben gehabt hatte.
Sonnen und Monde stehen gleichzeitig am Himmel, als stünde die Zeit still. Tief unter ihr liegt die Welt unter einer dichten Wolkendecke verborgen, die von den Sternen und der Weißen Morgensonne angestrahlt wird. Am Fuß der kannelierten Säulen strecken Nessablüten ihre roten Köpfe aus dem Schnee und wenden sich dem Sonnenlicht zu. Sie hat den Eindruck, als werde sie Zeugin des ersten Morgens, den die Schöpfergeister dieser Welt geschenkt haben.
Unwillkürlich trat Sanara einen Schritt zurück und griff, ohne sich umzuwenden, hinter sich, wo sie Telarion vermutete. Ernahm die Hand, sie sie ihm entgegenstreckte, und zog sie ein Stück weiter nach vorn, bevor er ehrfürchtig in die Knie ging und die Arme in einer Geste der Demut ausbreitete.
Sanaras Augen waren blind vor Tränen, doch sie folgte ihrem Geliebten und tat es ihm gleich.
Stille trat ein, doch keine unangenehme Stille. Sie war ermutigend, freudig, so als erwarte jemand, dass Sanara etwas täte, was selbstverständlich und doch wunderschön sei.
Ohne dass sie es wirklich beabsichtigte, begann Sanara mit geschlossenen Augen zu singen. Ein Lied ohne Worte.
Sie war sicher, die Tonfolge noch nie gehört zu haben, noch niemand hatte dieses Lied gesungen. Plötzlich wusste Sanara, es war so alt, dass es keine Worte hatte. Es war älter als der Dunkle Mond, älter als sein Zwilling, der die Worte erfunden hatte, es war eine Melodie, wie Ys sie gesungen haben mochte, als das erste Licht auf die Welt gefallen war: die Sterne, die Ys aus den Schalen des zerbrochenen Eis geschaffen hatte, in dem sie und ihr Geliebter Syth hausten, bevor die Welt entstanden war.
Sanara sang mit geschlossenen Augen, helle Funken von der Farbe der Sterne, nicht gold und nicht mehr ganz silbern und doch beides zugleich, tanzten um sie herum. Sie wirbelten um ihren Geliebten, der neben ihr kniete, um den Altar mit dem Abbild der Ys dahinter und um sie selbst herum.
Dann erklang helles Lachen. Ein Lachen, wie es diese silbrigen Sternenfunken von sich geben mochten, hätte man ihnen die Gabe des Sprechens und Singens verliehen.
Du bist gekommen, Geschöpf! Sei mir willkommen.
Ohne dass sie die Augen öffnete, wusste Sanara, dass sich die Funken zu einer Gestalt zusammengefügt hatten, die einem Seelenbild glich. Es hatte sich vor der Statue gebildet, so wie sich ein Seelenbild vor dem Körper bildete, zu dem diese Seele gehörte.
Die Frau, deren Alter unbestimmbar war, kam auf Sanara und Telarion zu.
In dir kam der Mittag zu mir, Geschöpf, der Abend und der Som mer des Jahres, in dem jedes Ding seine höchste Blüte hat. Du bist die Wärme, das Feuer, das allem innewohnt, und die Stärke der Erde, die Kraft, aus der Leere und den Nebeln, die alles verschlingen, Leben zu schaffen.
Und du brachtest den, den ich dir zur Seite gab. Ihn, der nach dem Winter der erste Frühlingstag ist, der dein Feuer zur Ruhe bringt und es doch schürt, der die Dinge ordnet und dessen lebendiger Atem dich belebt, wenn die Nebel der Leere dich zu ergreifen drohen.
»Wir danken dir für das Willkommen!«, erwiderte Sanara, ohne das Lied zu unterbrechen. »Dafür, dass du mir einen zur Seite stelltest, der mich ergänzt. Ich wusste es nicht, aber er ist mein Glück.«
Sanara wusste, dass Telarion neben ihr saß. Als sie nun ihren inneren Blick auf ihn richtete, schaute sie ihn, wie sie ihn noch nie wahrgenommen hatte: Sein Körper war hinter dem Seelenbild, das neben ihr kniete, nicht mehr zu sehen. Es leuchtete in einem wunderbaren Grüngold und schimmerte, als scheine die Weiße Sonne durch das junge Laub von Bugantibäumen. In dieser Gestalt, die wie der Fürst selbst kurze Haare hatte und die schlichte Kleidung des Reisenden ohne eine jora oder einen Mantel trug, wallte ein Yondarbaum mit weiter Krone, dessen Stamm, Geäst und Laub aus runden,
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