Goldmond
und höre einer Erzählung zu, die nur sie hören konnte.
»Ich verstehe. Unsere Zeit wird also knapp«, sagte sie nach einigem Schweigen leise. »Aber du siehst, dass ich recht hatte, dich erneut vor dem Fürsten von Norad zu warnen. Wie schnell kannst du im Süden sein?«
Ireti lauschte wieder, dann senkte sie den Kopf. Die Antwort desjenigen, den Iram nicht sehen konnte, schien ihr Kummer zu bereiten. Wie jedes Mal, wenn Iram das mit ansah, zog es ihm das Herz zusammen. Seine Schwester war stark, das wusste er, obwohl sie zu schwach wirkte, um sich aus eigener Kraft vom Bodenzu erheben. Er hätte gern jedes Leid von ihr ferngehalten, doch er wusste, das hätte sie nicht geduldet. Es blieb ihm nur, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihn brauchte, in ihrer Nähe zu bleiben.
»Der Zwilling meines Gemahls war schon immer mein größter Gegner auf dem Weg, die Welt zu befrieden!«, murmelte sie dann. Es klang, als spräche sie mit sich selbst. »Immer, wenn ich hoffe, Ordnung in die Dinge gebracht zu haben, bringt er sie durcheinander. So als diene er nicht dem Vanar, sondern dem Syth.« Sie straffte sich und legte mehr Nachdruck in ihre Stimme. »Nun, wir müssen uns mit dem, was der Fürst anrichtete, abfinden. Ich weiß, dass dir daran liegt, die Siwanonstochter zu beschützen, doch ich fürchte, vorerst ist sie für dich verloren. Sei damit getröstet, dass der Verfluchte ihr kein Haar krümmen wird, solange das Siegel nicht in seiner Hand ist. Wenn wir es ihm erst abgejagt haben, wirst du sie leicht von diesem Verräter trennen können – so wie das Siegel einst auch Ys und Syth trennte. Ich wollte das Siegel zerstören, doch nun muss es erst diese Aufgabe erfüllen. Dazu brauchen wir es.«
Wieder entstand eine Pause, in der Ireti nachzudenken – oder zuzuhören – schien. »Komm zu mir, so schnell es geht. Wir müssen unsere Kräfte auf die Tiefe des Südens konzentrieren. Geh zu meiner Sippe in den Wald von Dasthuku. Wie du vielleicht weißt, leben sie in der Nähe des Westufers am Mondsee, seit die Rebellen des Dunklen Volks ihnen den Grünen Turm nahmen. Ich werde dich ankündigen, sodass sie dir eine schnelle Reise ermöglichen. Wende dich dann direkt nach Süden. Umgehe den Loranon, so gelangst du geradewegs nach Farokant.«
Wieder schwieg sie, dann neigte sie anmutig den Kopf. Ihr langes Haar fiel ihr ins Gesicht, sodass Iram es nicht mehr sehen konnte. Sie blieb so lange reglos in dieser Haltung, dass Iram glaubte, das Leben habe sie verlassen.
Als die letzten Glutfunken erloschen waren, die Räucherstäbchen heruntergebrannt und der starke Duft langsam verblasstwar, verwehte auch der dichte Rauch, den Iram in den Schatten des ethandins gesehen hatte.
Doch immer noch rührte Ireti sich nicht.
Iram wurde unruhig. Er kannte seine Schwester, Ireti wurde nur dann so still, wenn ihre Seele auf Wanderschaft ging. Meist legte sie sich danach nieder und schlief für Stunden, manchmal Tage, denn wie Iram wusste, waren diese Wanderungen für sie, die nur eine Halbelbin war, überaus anstrengend.
Immer hatten die Landarias-Elben den Spott und die Verachtung der Elben von Nisanti, Kantis und Norad erdulden müssen, weil sie Wert darauf gelegt hatten, nicht nur die goldenen Kräfte des Vanar, sondern auch die des Akusu zu besitzen. Dajaram hatte in seiner Freundlichkeit diesen Spott beenden und das Haus Landarias zu einem vollwertigen machen wollen, indem er Tarind zu Indrasaths Pagen und zum Ziehbruder von dessen ältestem Sohn Iram bestimmte.
Ireti hatte diese Gelegenheit mit Freuden beim Schopf gepackt. Sie und Tarind hatten sich geliebt, mit seiner Hilfe hatte sie das Ziel erreichen wollen, einst selbst über die Elben zu herrschen. Doch diesem Ehrgeiz, ein Ehrgeiz, dem Tarind sich angeschlossen hatte, hatte Dajaram im Weg gestanden, und so hatte Ireti ihm mit Wissen ihres Geliebten die Seele und damit das Leben genommen.
Doch sie hatte nicht bedacht, dass Dajaram einen zweiten Sohn hatte – Tarinds Zwilling, den Herrn des Lebens, der jede Sekunde von Dajarams Tod mit eigenem Schmerz bezahlt hatte und so zum unerbittlichen Feind seines Mörders geworden war. Auch wenn für Telarion dieser Mörder lange kein Gesicht gehabt hatte, hatte er doch Zeit seines Lebens gegen ihn gekämpft. Er war für Ireti zur Hybris geworden, einem Hindernis, das aus ihren eigenen Taten erwachsen war und der gegen Ireti und ihr beharrlich verfolgtes Ziel stand, selbst die Herrschaft über die Welt anzutreten und
Weitere Kostenlose Bücher