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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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gehörig auf den Wecker. »Soso«, sagte er. »Woher wissen Sie das so genau; haben Sie den Mörder gesehen?«
    »Nein.«
    »Oder waren Sie es am Ende selbst?«
    Der Mann erschrak sichtlich.
    »Um Gottes willen! Natürlich nicht!«
    »Dann erzählen Sie doch einfach mal der Reihe nach, was Sie gesehen haben, bevor Sie hier voreilige Schlussfolgerungen ziehen.«
    »Ich hab gesehen, dass die Nazis sich nicht mit Roten angelegt haben in der bewussten Nacht, sondern mit einem Juden.«
    »Ein Jude.« Gräf schaute auf. »Sicher?«
    »Warum trägt einer sonst schwarz und ’nen Bart und Schläfenlocken? Und Fasching ham wa ja wohl noch nich!«
    »Bitte der Reihe nach: Was genau haben Sie beobachtet?«
    »Ich war im U-Bahnhof, und da –«
    »Welcher U-Bahnhof?«
    »Na hier. Gesundbrunnen. Wo denn sonst? Hab da auf meine Bahn gewartet.«
    Das kratzende Geräusch des Bleistifts von Christel Temme gab Gräf fast das Gefühl, am eigenen Schreibtisch in der Burg zu sitzen. »Gut«, sagte er, »weiter.«
    »Na, da stand eben der Jude und wartete auch. Und dann kamen die Nazis. Der Mann aus der Zeitung war auch dabei, also das Mordopfer. Hab ich gleich wiedererkannt auf dem Foto.«
    »Und was ist passiert auf dem Bahnsteig?« Gräf übte sich in Geduld, auch wenn es ihm schwerfiel. Aber offensichtlich hatte dieser Mann wirklich etwas beobachtet. Womöglich der erste ernst zu nehmende Zeuge.
    »Wenig. Irgendwann ist der Jude die Treppe hoch, und die SA ist hinterher.«
    »Einfach so?«
    »Die haben ihn ein bisschen aufgezogen, nichts Ernstes.«
    »Nichts Ernstes ...«
    »Weiß auch nicht, warum der abgehauen ist. Die Bahn fuhr doch gerade ein.«
    »Und Sie?«
    »Ich bin in die Bahn gestiegen.«
    »Sonst nichts beobachtet?«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich war doch schon in der Bahn, und die sind alle die Treppe ruff.«
    »Wie viele waren es?«
    Achselzucken. »Vier oder fünf.«
    Gräf holte das Foto von Scharführer Günter Sieger aus der Mappe, das er in der Akte der Politischen Polizei gefunden hatte, und schob es über den Tisch. »War dieser Mann dabei?«, fragte er.
    Der Zeuge warf nur einen kurzen Blick auf das Bild. Dann schaute er Gräf an und nickte.
    53
    R ath musste gegen den Schlaf kämpfen und kritzelte sinnlose Muster in sein Notizbuch. Fünf Tassen Kaffee hatte er schon getrunken. Richtig gewirkt hatte keine. Die letzte Nacht war lang geworden, und trotzdem hatte er, als er endlich im Bett gelegen hatte, nicht einschlafen können. Er begann den Cognac zu vermissen, der immer noch in Moabit stand und den er am Luisenufer viel dringender gebraucht hätte. Heute musste er sich unbedingt eine Flasche besorgen, im Moment ging es nicht ohne. Oder er würde in spätestens drei Tagen auf dem Zahnfleisch gehen, nach weiteren Nächten ohne Schlaf.
    Ausgerechnet der Grinsemann! Rath hatte diesen Idioten, diesen Dauerlächler, der natürlich scharf war auf Charly, auch wenn sie das immer abgestritten hatte, schon zum Teufel gewünscht, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Eine Zeit lang hatte er tatsächlich geglaubt, der Kerl sei weg vom Fenster. Doch der hatte offensichtlich nur gewartet, seelenruhig gewartet auf seine Chance. Und sie nun bekommen. Als Witwentröster. Er hätte dem Kerl doch eins auf die Nase geben sollen, verdammt noch mal!
    Der Aufzug öffnete sich, und ein Page stellte eine Tasse Kaffee auf den antiken Schreibtisch, räumte die leere Tasse gleich ab. Rath konnte diese Tischplatte und ihre Intarsien mittlerweile nicht mehr sehen, diesen Aufzug nicht und auch nicht diese Zimmertür – das ganze Hotel war ihm zuwider. Aber wenigstens stimmte der Service.
    Dass sich Goldstein in seiner Suite verkroch wie ein Bär im Winterschlaf, das hatte ihn anfangs noch gefreut, er hatte es als Sieg verbucht in ihrem kleinen Wettkampf, der mit der Verfolgungsjagdgleich am ersten Tag begonnen hatte. Mittlerweile aber wartete Rath schon beinah sehnsüchtig auf das nächste Wettrennen. Doch Goldstein wollte offensichtlich nicht mehr. Warum reiste der Ami dann nicht einfach ab? Was hatte er hier noch zu erledigen? Wollte er seine Wachhunde nur einlullen, um dann irgendwann umso überraschender zuzuschlagen? Oder erledigte er seine Geschäfte bequem vom Hotelzimmer aus, und sie schoben hier die ganze Zeit völlig vergeblich Wache?
    Na ja, solange der da draußen nicht rumballert und für antisemitische Schlagzeilen sorgt, ist unsere Mission ja erfüllt, dachte Rath.
    Er richtete sich auf. Im Gang war jemand

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