Goldstein
abgelichtet, und das war alles andere als jugendfrei. Ganz oben auf dem Stapel erkannte Rath Christine, die Blonde von vorhin, diesmal aber ohne Bademantel und in Aktion mit einem muskulösen Turner. Eben im Bademantel hatte sie ihn scharf gemacht, aber jetzt ließ die Frau ihn seltsam kalt. Rath blätterte sich durch den Fotostapel und die Venuskeller -Programme der vergangenen Jahre und war irgendwann bei dem angelangt, das er vor rund zwei Jahren selbst noch hatte bewundern dürfen. Die Fotos zeigten einen falschen Indianer, der eine echte Weiße am Marterpfahl bearbeitete – und zwar völlig anders, als man das von Karl May so kannte. Unwillkürlich schaute Rath über die Bilder, versuchte, sich selbstim Publikum zu entdecken, sah aber nur unbekannte Gesichter. Er musste an den damaligen Abend denken, mit dem das ganze Unglück angefangen hatte. Und dann stutzte er, als er das Gesicht der Frau am Marterpfahl sah, ein Gesicht, das er eigentlich längst vergessen hatte, und das ihm nun plötzlich doch bekannt vorkam, sehr bekannt sogar. Fieberhaft suchte er nach einem besseren Foto, der Fotograf hatte auf alle Körperteile gehalten, am wenigsten jedoch auf die Gesichter. Doch dann fand Rath eines, das beinahe schon Porträtqualitäten hatte – sofern man die sekundären Geschlechtsmerkmale ausblendete, hätte man es sogar für einen Reisepass benutzen können. Und Rath war plötzlich hellwach, auch ohne das Koks, das Marlow ihm hatte aufschwatzen wollen. Einen Moment hatte es gebraucht, ehe der Groschen fiel, aber nun wusste er, wo er diese Frau zuletzt gesehen hatte. Es war gar nicht mal so lange her.
52
D as 50. Polizeirevier hatte sein Domizil in der Zingster Straße, keinen Steinwurf entfernt vom Ringbahnhof und dem neuen U-Bahnhof Gesundbrunnen. Oberwachtmeister Rometsch hatte am Telefon nicht übertrieben. In seinem Revier ging es zu wie in einem Taubenschlag. Er fing die Besucher vom Alex schon an der Pforte ab und führte sie durch die Traube der wartenden Leute hindurch in einen Büroraum.
»Herr Kriminalsekretär, mein Büro steht zu Ihrer Verfügung.«
Der Wachtmeister stand stramm und klang so wichtig wie ein Gefreiter, der bereit ist, für die Rettung des Vaterlandes sein Leben zu opfern. Gräf schaffte es, das Gesicht nur leicht zu verziehen.
»Schön«, sagte er. »Wie viele Zeugen sind’s denn?«
»Ungefähr ein Dutzend.«
»Und die sind alle noch hier?«
»Jawohl, Herr Kriminalsekretär. Habe niemanden gehen lassen, bevor der Herr Kriminalsekretär nicht die Aussagen zu Protokoll genommen hat.«
Gräf nickte. »Was ist mit denen, die sich telefonisch gemeldet haben?«
»Habe ich auch herbestellt. Müssten inzwischen alle da sein.«
Nun wunderte Gräf sich nicht mehr über das Gedränge draußen auf dem Gang.
»Schicken Sie mir die wichtigsten Zeugen bitte zuerst rein.«
Rometsch salutierte und verschwand. Gräf seufzte.
Während Böhm sich am Alex noch einmal den bedauernswerten Leo Fleming vornehmen wollte, hatte er den Kriminalsekretär zum 50. Revier geschickt, wo sich mittlerweile eine ganze Reihe Zeugen gemeldet hatten. »Sie wollen doch diesen SA-Fritzen besuchen«, hatte Böhm gesagt. »Da können Sie das gleich mit erledigen.«
Gräf machte es sich an einem Schreibtisch bequem, der einen derart aufgeräumten Eindruck machte, dass er sicher war, am Arbeitsplatz von Oberwachtmeister Rometsch höchstselbst zu sitzen. Christel Temme stand da mit ihrem Block, unschlüssig, wo sie Platz nehmen sollte. Der Kriminalsekretär deutete auf den zweiten Schreibtisch in diesem Büro, der allerdings einen deutlich unaufgeräumteren Eindruck machte. Die Stenotypistin setzte sich, schob einen Aktenordner, einen angebissenen Apfel und etwas Butterbrotpapier beiseite und legte ihren Stenoblock mit angewidertem Blick auf die frei gewordene Arbeitsfläche.
Nach einer Minute schickte Rometsch den ersten Zeugen herein: einen kleinen Mann mit spitzer Nase, der seinen Hut in der Hand trug und offensichtlich sehr stolz darauf war, als Erster vernommen zu werden. Kaum hatte Gräf ihm den Platz vor Rometschs Schreibtisch zugewiesen, legte er auch schon los, noch im Moment des Hinsetzens, bevor der Kriminalsekretär überhaupt Gelegenheit hatte, eine Frage zu stellen.
»Es hat keine Schlägerei mit Kommunisten gegeben, so viel kann ich Ihnen schon mal sagen. Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer.«
Die nassforsche Art des Zeugen, der jetzt bräsig breitbeinig auf dem Stuhl saß, ging Gräf
Weitere Kostenlose Bücher