Goldstein
aufgetaucht, nicht Goldstein, sondern eine Person, die ihn mit einem Mal hellwach machte, wacher als fünf Tassen Kaffee das vermochten. Sie kam nicht aus der 301, sie kam den Gang hinunter und schob einen Wäschewagen vor sich her. Rath stand auf und fing sie ab, bevor sie im Gang gegenüber verschwinden konnte.
Sie schaute ihn erstaunt an, ein wenig zu erstaunt, wie Rath fand; so als spiele sie dieses Erstaunen nur, als wisse sie genau, wen sie vor sich habe.
»Kann es sein, dass ich Sie von irgendwoher kenne?«, fragte Rath.
»Wenn Sie nicht ganz blind sind, sollten Sie mich schon öfter gesehen haben. Sie sitzen doch schon ein paar Tage hier, nicht wahr? Da vor den Aufzügen.« Sie deutete mit ihrem Kinn auf den Schreibtisch.
»Ich meine nicht, dass ich Sie von hier kenne.«
Sie schaute fragend.
»Ich sage nur Venus. Und Keller.«
Sie ließ sich nichts anmerken.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
» Venuskeller . Nie gehört? Ein Nachtclub. Ein illegaler Nachtclub.«
»Sehe ich so aus, als würde ich in illegalen Lokalen verkehren?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich würde darauf wetten, dass ich Sie im Venuskeller schon einmal auf der Bühne gesehen habe.«
Sie schaute ihn misstrauisch an.
»Und wenn das so wäre? Wollen Sie mich erpressen?«
»Ich finde es nur ungewöhnlich, Sie ausgerechnet hier wiederzusehen.«
Sie musterte ihn.
»Und ich hätte nicht gedacht, dass Sie zu den Leuten gehören, die solche Lokale besuchen.«
»Beruflich. Ich war mal bei der Sitte.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Dann sind Sie also wirklich Polizist!«
»Hat sich das schon rumgesprochen.«
»Meinen Sie, einer von den Angestellten glaubt das Märchen vom Schriftsteller, das Teubner in die Welt zu setzen versucht?« Sie schaute ihn an, eine gelinde Verachtung im Blick. »Wirkt ein bisschen komisch, dass der Schriftsteller vier verschiedene Gesichter hat, oder?«
»Ihr Hoteldetekiv hat auf dieser Geschichte bestanden. Um die Gäste nicht zu beunruhigen. Ich darf doch auf Ihre Diskretion hoffen.«
Sie schaute ihn an mit einem überlegenen Lächeln und schob ihren Wagen weiter, wollte an den Aufzügen vorbei in den nächsten Gang. Rath versperrte ihr den Weg.
»Was soll das? Lassen Sie mich meine Arbeit machen!«
»Nur ein paar Worte zum Gast in Suite dreinulleins.«
»Der Amerikaner?«
»Genau der. Ist Ihnen etwas aufgefallen in den letzten Tagen?«
»Was soll mir aufgefallen sein? Dass er selten weggeht, vielleicht. Scheint viel zu tun zu haben. Ist fast immer im Zimmer, wenn ich neue Handtücher bringe oder das Bett mache.«
»Wie kommen Sie darauf, dass er viel zu tun hat?«
»Na, wenn einer freiwillig den ganzen Tag auf der Bude hockt. Und dauernd telefoniert.«
»Haben Sie irgendetwas aufgeschnappt von diesen Telefonaten?«
»Ich spreche kein Englisch.«
Rath gab ihr seine Karte. »Wenn Ihnen irgendetwas auffallen sollte, sagen Sie mir bitte Bescheid. Wie war Ihr Name noch gleich?«
»Marion.« Sie nahm die Karte achselzuckend an und steckte sie ein. »Tut mir leid«, sagte sie, »ich muss jetzt wirklich weiter.«
Es machte Pling, und der linke Aufzug öffnete sich. Rath tippte an einen imaginären Hut und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Marion schob ihren Wäschewagen weiter.
54
G ünter Sieger, der bei der SA den Dienstrang eines Scharführers bekleidete, war im richtigen Leben Hausmeister in einer heruntergekommenen Mietskaserne in der Bernauer Straße. Gräf erwischte ihn beim Mittagessen. Der Geruch von Sauerkraut und Kasseler erinnerte ihn daran, wie leer sein eigener Magen war. Bis auf eine halbe Schrippe heute Morgen und eine Tasse schwarzen Kaffee hatte er noch nichts bekommen.
Die Vernehmungen im 50. Revier hatten sich in die Länge gezogen. Vier weitere Zeugen immerhin hatten die Aussage bestätigt, nach der Kubickis SA-Trupp, angeführt von Scharführer Sieger und trotz Uniformverbots in vollem Ornat, einen alten Juden im U-Bahnhof Gesundbrunnen angepöbelt hatte und dem Mann dann gefolgt war. Ein Zeuge hatte berichtet, dass die Pöbeleien vom Bahnsteig sich oben im Bahnhofsgebäude fortgesetzt hatten, bis der Jude aus dem Bahnhof geflohen war. »Da hat sich einer eingemischt«, hatte er erzählt, »der kann von Glück reden, dass die Nazis hinter dem Juden her mussten ... äh ... waren, sonst hätten sie dem wohl ’ne Abreibung verpasst.«
Gräf hatte die Temme zum Alex zurückgeschickt, hier draußen konnte er die Stenotypistin nicht gebrauchen. Er
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