Goldstein
halbes Dutzend Mal hatte Rath diesen Satz heute schon gehört, doch zum ersten Mal stand er einem Mann gegenüber, dem er diese sechs Worte nicht glaubte. Er wusste nicht einmal warum, keine Anzeichen von Unsicherheit, die mitschwangen in der Stimme, kein zu schnelles Sprechen, immer ein Indiz für vorgefertigte Antworten. Vielleicht lag es einfach daran, dass der Mann, der da hinter dem wackligen Tisch saß, der offensichtlich den Empfangstresen darstellen sollte, ihm nicht nur unsympathisch, sondern von Kopf bis Fuß zuwider war. Dabei hatte er eigentlich nicht daran geglaubt, dass diese Spur, die Grabowski ausgegraben hatte, zu etwas führen würde. Ein paar vertane Stunden, wie meistens. Doch diesen Mann hier hatte das Porträt von Abraham Goldstein aus dem Konzept gebracht, auch wenn er sich alle Mühe gab, das nicht zu zeigen.
»Unterweltfluss im antiken Griechenland mit vier Buchstaben. X am Ende.«
»Styx«, sagte Rath, und der Mann zückte seinen Bleistift.
»Wie schreibt man det denn?«, fragte er.
Rath schnappte die Zeitung mit einem schnellen Griff und riss sie dem Mann aus der Hand, legte sie dann sanft, geradezu behutsam neben die Kaffeetasse auf den Tisch und verdeckte das Kreuzworträtsel mit dem Porträt von Abraham Goldstein.
»Schauen Sie sich das Bild doch bitte noch einmal genauer an«,schlug er vor, in einem freundlichen Tonfall, der den Portier sichtlich irritierte.
Der Mann tat ihm den Gefallen. »Wie ick schon sagte: Kenn ick nich.« Dann griff er wieder zur Zeitung.
Rath schaute sich um. Elektrische Leitungen waren über die Tapete gelegt, sah nicht aus wie die Arbeit von Fachleuten. Und mit der Sauberkeit in diesem Loch war es auch nicht zum Besten bestellt. Und ob die Bücher stimmen mochten?
»Hören Sie«, sagte er, immer noch freundlich, »was meinen Sie wohl, was es braucht, diese Wanzenhöhle hier dichtzumachen? Ein Anruf beim Ordnungsamt? Oder einer beim Gesundheitsamt? Finanzamt müsste auf jeden Fall funktionieren. So eine kleine Steuerprüfung. Am besten, ich gehe auf Nummer sicher.«
»Man nich so voreilig!« Der Mann hatte die Zeitung tatsächlich beiseitegelegt und machte sogar Anstalten aufzustehen. »Wir können uns gerne unterhalten. Wat wollnse denn wissen?«
Rath schob dem Mann noch einmal die Goldsteinzeichnung unter die Nase. »Dieser Mann. Wohnt der hier?«
Der Portier schüttelte den Kopf. »Ne«, sagte er, und Rath war schon dabei, sich umzudrehen, um zu der Telefonzelle draußen am Oranienburger Tor zu gehen, da sprach der Mann weiter: »Der ist vor ein paar Tagen ausgezogen.«
Rath blieb stehen. »Wann?«, fragte er.
Der Portier zog die Schultern hoch.
»Spannen Sie mich nicht auf die Folter! Mit Scheinchen können Sie nicht rechnen. Entweder Sie reden oder ich telefoniere!«
»Gestern«, sagte der Mann. »Gestern Nachmittag.«
»Und wohin ist er gegangen?«
Noch ein Schulterzucken. »Ich weiß es wirklich nicht. Er ist einfach nicht wiedergekommen. Keine Ahnung, wo der jetzt abgestiegen ist.«
»Und sein Gepäck? Ist das etwa alles noch hier?«
»Ne. Sonst würde ich ja nicht sagen, er ist ausgezogen. Das hat wer abgeholt.«
»Wer ist wer? Einer oder eine?«
Blödes Glotzen. »Ick verstehe nicht ...«
»Seine Begleiterin. Hat die das Gepäck abgeholt?«
Kopfschütteln. »Nee. Ne Frau war det bestimmt nich!« DerMann grinste. »Der hatte so ’nen Bart.« Er zeigte die Bartlänge mit einer Handbewegung. »Ganz in Schwarz. ’n seltsamer Vogel. So mit Kaftan und so, Sie wissen schon.«
»Was weiß ich schon?«
»Na, ein Jude halt. Der hat den Krempel abgeholt. War ja nicht viel. Nur ein Koffer. Und die Rechnung hat er auch bezahlt. Hat also alles seine Ordnung.«
Rath nickte. Er hörte schon gar nicht mehr richtig zu.
Natürlich fand die Spurensicherung nichts. Alle Schränke leer, Goldstein hatte nichts zurückgelassen, nur die Bibel lag noch in der Nachttischschublade. Das Zimmer hatte eine Größe, die man dem Hotel gar nicht zugetraut hätte, wahrscheinlich das beste, das diese Absteige zu bieten hatte, verglichen mit der Luxussuite im Excelsior allerdings war es ein Loch, eine andere Bezeichnung wollte Rath nicht einfallen. Wie es sich für ein Haus dieser Kategorie gehörte, hatte das Zimmer nach der überstürzten Abreise des Gastes noch keine Putzfrau gesehen, und so konnten die Erkennungsdienstler wenigstens jede Menge Fingerabdrücke sicherstellen. Damit würde sich Goldsteins Aufenthalt in diesem Zimmer jedenfalls bestätigen
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