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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Straße ...«
    »Richtig.«
    »Aus welcher Richtung kamen Sie und wohin wollten Sie?«, fragte Lange, ein wenig voreilig. Charly bemerkte Gennats bösen Blick, der Lange sofort rot werden und verstummen ließ.
    »Ich wollte ... also ich war auf dem Weg zum ...« Thiemann schaute Gennat unsicher an. »Muss das wirklich ins Protokoll?«
    Gennat schüttelte den Kopf. »Für uns ist nur wichtig, dass Sie dort waren, nicht warum. Aber natürlich wäre es schon hilfreich, wenn Sie im Detail schildern, was Sie beobachtet haben.«
    Thiemann nickte erleichtert und fuhr fort. »Also, ich kam die Straße runter Richtung Tauentzien, nicht auf der KaDeWe-Seite. Ich hatte mich schon gewundert, weil da im Kaufhaus noch Licht brannte, also nicht nur die Leuchtreklamen, ich meine drinnen, in allen Etagen.« Er trank noch einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach. »Ich guckte also sowieso schon rüber zum KaDeWe und wunderte mich, und da sah ich dann diesen Jungen.« Er richtete sich auf in seinem Sessel, in dem er zu versinken drohte, hielt sich mit den Händen an den Armlehnen fest. »Ich habe gedacht, das ist ein Selbstmörder, wie er da oben über die Balustrade geklettert ist, und dann kam dieser Polizist, und ich dachte, na wird schon werden, da kümmert sich ja schon jemand.«
    »Haben Sie das Geschehen weiter beobachtet?«, fragte Gennat.
    Thiemann nickte. »Ja. Ich war unfähig mich zu rühren.«
    »Waren da noch andere Menschen auf der Straße?«
    »Nicht direkt an dieser Stelle. Da waren nur ich und dieses Mädchen. Die stand da auf der anderen Straßenseite und hat hochgeschaut. Hatte Hosen an. Dass sie aus dem KaDeWe gekommen ist, dass sie eine Einbrecherin ist, genau wie ihr Kumpel da oben, das hab ich erst später verstanden.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Ich weiß nicht, wie lange das alles dauerte, aber der Schu– ... der Polizeibeamte stand da und machte überhaupt keine Anstalten, den Jungen zu retten. Zuerst dachte ich, der will nichts überstürzen, der redet ihm gut zu oder so. Aber dann sah ich, wie er mit dem Stiefel auf die Finger des Jungen trat, sah fast so aus, als würde er eine Zigarette mit dem Absatz austreten.«
    »Und das konnten Sie von da unten so genau sehen?«
    »Was heißt genau. Aber die Fassade war hell angestrahlt von der Leuchtreklame, und aus den Fenstern fiel auch ein bisschen Licht. Also, ich habe schon gesehen, was ich gesehen habe. Auch wenn ich eine Brille trage, ich habe gute Augen.« Er nahm die Brille mit der rechten Hand ab und zeigte mit Zeige- und Mittelfinger der linken auf seine Pupillen. »Weitsichtig.«
    Gennat nickte. Er hatte sich keinerlei Notizen gemacht. Das hatte Lange übernommen, der darüber seine Herrentorte vernachlässigt hatte. Auf eine Stenotypistin hatten sie verzichtet, um den Kreis der Mitwisser klein zu halten. Eigentlich hätte Charly diese Aufgabe übernehmen können, sie hatte sogar damit gerechnet, der Buddha aber hatte Lange den Stenoblock in die Hand gedrückt.
    »Wie ist es denn weitergegangen, Herr Thiemann?«, fragte Charly. Sie hörte sich an wie eine interessierte Zuhörerin, als sei Gerald Thiemann ein Geschichtenerzähler und sie sitze hier beim Kaffee, um ihm zu lauschen.
    »Er hat ein paarmal geschrien, der Junge«, fuhr der Zeuge fort, »und dann ist er irgendwann gefallen.« Er schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Schrecklich. Als er fiel, hat er keinen Ton mehr gesagt, nicht geschrien, nichts.«
    »Und das Mädchen?«
    Thiemann zuckte die Achseln. »Ich hab ja nicht sie im Blick gehabt, sondern ihn. Aber ich glaube, sie hat genauso stocksteif dagestanden wie ich. Sie ist sofort zu ihm hingelaufen, ich auch. Und dann hat sie mich gleich angefaucht, ich soll einen Krankenwagen holen.«
    Charly musste an die Alex denken, die sie kennengelernt hatte. Ja, das passte. »Und den haben Sie dann geholt?«, fragte sie.
    »Erst mal musste ich eine Telefonzelle suchen. Die nächste steht erst am Wittenbergplatz, das hat eine Weile gedauert. Tja, und als ich zurückkam, waren da schon Ihre Kollegen, die um den Jungen herumstanden, ich glaube, da war er schon tot. Und das Mädchen, das war weg.«
    »Und Sie? Haben die Kollegen Sie nicht befragt?«
    Thiemann schüttelte den Kopf. »Mich hat überhaupt keiner beachtet. Ich war einer von vielen Schaulustigen. Ich hab gewartet, bis der Krankenwagen kam, dann bin ich gegangen. Ohne mit irgendjemandem zu reden.«
    »Das hätten Sie aber tun müssen, Herr Thiemann.« Gennat stellte seinen

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