Goldstein
Kuchenteller ab und schaute den Zeugen aus gutmütigen Augen an. »Das sind doch alles wichtige Aussagen. Warum haben Sie den Kollegen denn nichts gesagt?«
Thiemann hob die Schultern. Er wirkte ein wenig hilflos, wie er da saß, ein dürrer Hering in einem viel zu großen, viel zu dicken Sessel. »Ich wollte eben keinen Ärger«, sagte er schließlich. »Ich hatte mit diesem Mädchen gesprochen, das war doch eine Verbrecherin. Und ich habe sie nicht festgehalten. Ich hab sie laufen lassen. Weil ich die nächste Telefonzelle gesucht habe, um einen Krankenwagen zu holen.«
»Daraus hätte Ihnen doch niemand einen Vorwurf gemacht.«
»Mag sein. Aber ... da war noch etwas anderes. Dieser Mann ...« Thiemann zeigte auf Kuschkes Porträt. »Der hat einen angeguckt, dass man Angst kriegen konnte.« Er schluckte, als falle es ihm schwer, den nächsten Satz auszusprechen. »Und dann war ich ziemlich durcheinander nach allem, was passiert ist; ich wusste nicht mehr, woran ich überhaupt bin. Also mit Ihnen ... mit Ihren Kollegen, meine ich ...«
Gennat nickte verständnisvoll. »Und warum haben Sie sich dann nicht später bei uns gemeldet? Als Sie nicht mehr so durcheinander waren, meine ich.«
»Vielleicht bin ich das ja immer noch«, sagte Thiemann. »Als Kind«, fuhr er nach einer Weile fort, »als Kind habe ich gelernt: Die Polizei, das sind immer die Guten und die Räuber immer die Bösen ... So haben wir das jedenfalls gespielt ...« Er schaute misstrauisch in die Runde. »Aber vielleicht hat sich das ja geändert seit Kaisers Zeiten ...«
»Das hat es nicht«, meinte Gennat. »Wir sind immer noch die Guten.« Er seufzte. »Ausnahmen bestätigen die Regel.«
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98
R ath parkte fast an derselben Stelle wie tags zuvor. Sankt Norbert war eine jener Berliner Kirchen, die nicht frei standen, sondern in Reih und Glied mit den Straßenfassaden der Wohnblocks. Das Einzige, was die Kirche von den sie flankierenden Häusern unterschied, waren die beiden Kirchtürme und die Firsthöhe der Giebelfassade, die über die der fünfstöckigen Wohnhäuser hinausragte, die sonst die Mühlenstraße prägten. Der linke Turm stand etwas abgeknickt, der Krümmung der Straße folgend, und grenzte direkt an das benachbarte Norbertkrankenhaus. Die unteren Etagen mit den rundbögigen Eingängen (eine davon eine Hofeinfahrt) waren mit grob behauenem Naturstein verblendet, in den oberen gliederten Fensterreihen die Fassade, da schienen sich noch eine ganze Menge Räume zu verbergen, vielleicht wohnte da der Pfarrer.
Rath hatte sich einen Opel von der Fahrbereitschaft geben und den auffälligen Buick im Präsidium stehen lassen. Sein Besuch gestern hatte den jungen Flegenheimer aufgescheucht, nur deswegen hatte er die Kirche besucht. Aber warum? Den ganzen Abend und die halbe Nacht hatte Rath sich darüber den Kopf zerbrochen, und das Einzige, das ihm plausibel erschien, war ein toter Briefkasten. Irgendwo in der Kirche hatte Flegenheimer eine Nachricht für seinen Cousin hinterlassen.
Er musste an seinen Besuch bei Christine Möller denken. Die Hauptattraktion des Venuskellers war tatsächlich diejenige, die den roten Hugo verraten hatte. Allerdings ohne zu wissen, dass sie ihn damit in den Tod schickte, wie sie immer wieder betont hatte. Rath wusste noch nicht, ob er ihr das glauben sollte, aber ihre Weisungen hatte sie wohl tatsächlich von der Polizei erhalten und nicht von den Nordpiraten. Einen Namen allerdings hatte sie ihm nicht nennen, auch keine Personenbeschreibung geben können; alles war anonym gelaufen, meistens über das Telefon. Das einzige persönliche Treffen, von dem sie erzählt hatte, war eines mit Gregor Lanke gewesen, denn der Mann von der Sitte hatte den Kontakt zu dem ominösen Unbekannten vermittelt – das heißt zu einer Telefonstimme. Lanke hatte sie unter Druck gesetzt, sie müsse ihm diesen Gefallen tun, andernfalls würde er sie wegen Drogenbesitzes für Jahre ins Gefängnis bringen. Irgendwer musste ihm verraten haben, dass sie kokste, jedenfalls hatte er eines Tages bei ihr auf der Matte gestanden und ihre Vorräte aufgespürt. Allein, ohne einen Kollegen. Und seither bezahlte sie dafür. Weniger mit Informationen als mit regelmäßigen Gefälligkeiten. Sie musste nicht genauer werden, Rath kannte die Fotos, die er in derselben Schublade gefunden hatte wie die von Marion Bosetzky.
Und dann hatte er sie nach Monaten, in denen er nur Sex als Gegenleistung für sein Schweigen einforderte, plötzlich
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