Goldstein
Und dieser Anwalt sprach sehr freundlich mit Luise und bat sie, einen Brief vorzulesen, den er ihr reichte. Das konnte sie nicht, sie benötigte zum Lesen eine Brille. Eine Brille, die sie so selten wie möglich trug – wie Mädchen nun einmal sind. Der Anwalt schaffte es, meine Schwester am Ende wie eine Halbblinde aussehen zu lassen, auf deren Aussagen mithin kaum Verlass wäre. Zudem hatte er ein paar alte Geschichten hervorgekramt und sie derart verdreht, dass Luise am Ende dastand wie eine Wichtigtuerin, ein Mädchen, das immer schon von Geltungssucht getrieben sei. Selbst dass sie in der Schule Klassensprecherin war, wendete der Drecksack zu ihrem Nachteil. Und wir, meine Eltern, ich und mein Bruder, wir saßen da und mussten mitansehen, wie aus dem mutigen Mädchen, das pflichtbewusst gegenüber der Allgemeinheit gehandelt hatte, plötzlich eine kurzsichtige, wichtigtuerische Göre wurde, die nicht einmal davor zurückschreckte, zwei Unschuldige ins Gefängnis zu bringen. Und am Ende präsentierte er dem Richter noch ein wasserdichtes Alibi seiner beiden Mandanten, sodass der die beiden Männer, obwohl die schon einige Vorstrafen angesammelt hatten, tatsächlich freisprach.«
»So etwas passiert leider immer noch viel zu häufig. Da wird Gerechtigkeit zu einer Frage des Geldbeutels. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, der ist aus dem Schneider.«
»Wir saßen da und konnten es nicht fassen«, erzählte Tornow weiter. »Meine Schwester hielt sich tapfer, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie den Tränen nahe war. Kein Wunder, wie dieser Anwalt sie öffentlich gedemütigt hat, und das nicht nur vor ihrer Familie, sondern vor der halben Stadt. Jede Menge Teltower waren zum Amtsgericht gepilgert, und alle wurden Zeuge ihrer Demütigung.«
Rath nickte. »Ich verstehe.«
»Nein«, sagte Tornow, so unwirsch, dass es Rath überraschte, »du verstehst nicht. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende!« Seine Stimme klang weniger scharf, als er fortfuhr. »Das Leben ging weiter nach dem Prozess, doch es war nichts mehr so wie vorher. Wir hatten das Vertrauen verloren in diesen Staat und seine Gerichtsbarkeit. Und dann ... Luise kehrte eines Tages von der Schule heim und erzählte, sie habe einen der Männer wiedergesehen, auf dem Schulweg. Niemand glaubte ihr, niemand in der Stadt, niemand in der Schule, sie war ja jetzt eine halbblinde Wichtigtuerin. Wir waren die Einzigen, die sie ernst nahmen, doch auch unser Insistieren in der Schule und bei der Polizei blieb erfolglos. Und dann ...« Er musste schlucken, bevor er weitersprach. »... und dann kam sie eines Mittags kurz vor den großen Ferien, ein sehr heißer Tag, das weiß ich noch, dann kam sie einfach nicht nach Hause. Wir haben sie überall gesucht, aber erst ein Ausflügler hat sie gefunden. Sie lag in den Hollandwiesen, halbtot geschlagen, blutig am ganzen Körper, die Kleider zerrissen. Sie hat nie wieder einen Ton gesprochen seitdem, aber wir wussten genau, wer es getan hatte. Zwei Männer, die das Leben meiner Schwester zerstört haben.«
Rath spürte einen Kloß im Hals. »Wie geht es deiner Schwester heute?«, fragte er.
Tornow schaute ihn nicht an, als er weitersprach. »Sie spricht seit sieben Jahren kein Wort, verlässt das Haus nicht mehr, wie soll es ihr gehen? Wie geht es einem wandelnden Leichnam?«
»Das tut mir leid«, sagte Rath, »das ist eine schreckliche Geschichte.«
»Du wolltest sie hören«, sagte Tornow. »Das ist der Grund, warum ich Polizist geworden bin. Der Grund heißt Luise Tornow.«
Rath merkte, wie sich sein schlechtes Gewissen meldete. Er war einer von den Bullen, die sich nicht scheuten, mit Verbrechern zusammenzuarbeiten, mit Marlow und seinem Ringverein. Eben noch hatte er mehr oder weniger in Marlows Auftrag einen Kollegen zur Schnecke gemacht. Hatte er sich jemals darüber Gedanken gemacht, ob so etwas noch in Einklang zu bringen war mit seinenursprünglichen Beweggründen, Polizeibeamter zu werden? Ja, hatte er, er hatte verdammt oft darüber nachgedacht, nur Antworten hatte er bislang keine gefunden. Auch jetzt drängte er den unangenehmen Gedanken wieder beiseite. »Was wurde aus den beiden Einbrechern?«, fragte er.
Tornow zuckte die Schultern. »Bevor man sie bestrafen konnte, sind sie bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Irgendein Streit in der Unterwelt. Aber, wer weiß, vielleicht hätte das Gericht sie ja sowieso wieder freigesprochen, genau wie beim ersten Mal. Vielleicht war es besser so.
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