Goldstein
verraten«, meinte er, »ich mache ab und zu etwas Illegales. Eigentlich ziemlich häufig. Beinahe jede Woche.«
»Lass mich raten: Du bist ein Serienmörder!« Rath lachte.
Tornow grinste ein wenig bemüht, als könne er diesem Witz nichts abgewinnen. »Nein«, sagte er und zeigte aus dem Fenster. »Der Gasometer. Von da oben hast du die beste Aussicht über Berlin.«
Rath setzte die Bierflasche ab, aus der er gerade hatte trinken wollen. »Du steigst da oben hinauf?«, fragte er überrascht.
»Ich weiß, dass das bescheuert ist. Aber da oben, weit weg von den Problemen hier unten, kann ich am besten nachdenken.«
Rath dachte daran, dass auch er manchmal rauf aufs Dach kletterte, hoch zu Liebigs Taubenschlägen, wenn er seine Ruhe brauchte.
»Der Gasometer ist wie ein Tier«, fuhr Tornow fort. »Er atmet. Jeden Abend senkt sich die Glocke, und jeden Tag steigt sie wieder; ich finde, das hat etwas sehr Beruhigendes.«
Rath zeigte mit der Bierflasche auf das riesige Stahlgerüst, in dessen Inneren der Gasbehälter fast zu voller Höhe hochgefahren war. »Und wie kommt man da hoch?«
»Treppen«, sagte Tornow, »da sind Stahltreppen. Siehst du die Kränze da im Stahlgerippe, das sind Wartungsgänge, da kommt man ohne Probleme hin. Und oben auf der Gasglocke, da sieht dich niemand. Aber du siehst die ganze Stadt.«
»Und das ist illegal?«
»Unbefugten ist der Zutritt verboten. So steht’s auf den Schildern.«
»Polizisten sind niemals Unbefugte, sondern immer Befugte, merk dir das, Herr Kommissaranwärter.«
Rath hatte eine Fotografie entdeckt, die auf dem Schreibtisch stand. Sie zeigte ein hübsches junges Mädchen, vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Ihr Lächeln war umwerfend.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Meine Schwester.«
Rath schaute den Kommissaranwärter an. »Die, die dich zur Polizei gebracht hat?«
Tornow nickte. »Die, deretwegen ich Polizist geworden bin.«
»Ein hübsches Mädchen«, sagte Rath. »Und noch so jung.«
»Das Foto ist schon etwas älter.«
»Du hast mir immer noch nicht erzählt, was es damit auf sich hat. Ich meine: warum du ihretwegen Polizist geworden bist.«
Tornow trank einen Schluck Bier und schwieg. Genau wie vor ein paar Tagen, als Rath das Thema zum ersten Mal angesprochen hatte. Doch diesmal hakte er nach. »Willst du nicht darüber reden?«, fragte er.
»Dazu gehört eine Geschichte«, sagte Tornow, »aber ich bin nicht sicher, ob du die wirklich hören willst.«
»Natürlich will ich. Erzähl.«
Tornow lächelte gequält. »Eigentlich bin ich nicht sicher, ob ich sie erzählen will.«
»Das musst du wissen.«
»Also gut.« Tornow räusperte sich entschlossen. »Die Sache liegt über sieben Jahre zurück. Verdammt, Luise war das hübscheste Mädchen der Welt.«
»War?«
»Sie ist nicht tot«, sagte Tornow und schaute Rath an, und in diesem Blick lag ein Schmerz, der ihn an dem meist freundlichen und gut gelaunten Mann bislang nicht aufgefallen war. »Vielleicht wäre es besser, sie wäre.«
Rath erschrak ob dieser harten Worte, doch er fragte nicht nach, er ließ Tornow erzählen.
»Eigentlich ist es schnell erzählt«, fuhr der Kommissaranwärter fort. »Wir lebten mit unseren Eltern in Teltow. Ein kleines Städtchen südwestlich von Berlin, ein Stückchen heile Welt, wie wir immer dachten. Und in dieser heilen Welt beobachtete meine kleine Schwester, sie war damals erst fünfzehn, eines Tages zwei Männer, die durch ein Fenster in eine Lagerhalle einstiegen. Sie holte die Polizei, doch fand die nur noch das eingeschlagene Fenster, als sie eintraf, in der Halle war kein Mensch mehr. Wenig später aber konnten zwei Männer festgenommen werden, auf die die Beschreibungzutraf. Luise hatte die beiden Halunken genau gesehen, und sie erkannte die beiden auch sofort wieder, als man sie ihr auf der Polizeiwache zeigte.«
Tornow machte eine Pause. Als müsse er Kräfte sammeln für den Teil seiner Erzählung, der nun folgte.
»Dann kam die Gerichtsverhandlung«, fuhr er fort. »Die ganze Familie war dort, selbst Vater hatte sich für den Vormittag freigenommen, um dabei sein zu können. Wir waren stolz auf Luise. Sie hatte Mut bewiesen, hatte sich von den beiden – und das waren wahre Galgengesichter – nicht einschüchtern lassen. So machte sie also vor Gericht ihre Aussagen. Und dann kam der Rechtsanwalt. Ein Anwalt aus Berlin, ein teurer, ein unbezahlbarer. Aber die beiden Einbrecher waren Mitglieder eines Ringvereins, und der trug die Kosten.
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