Goldstein
des Wartungsganges blieb an Ort und Stelle, während sich die Stange, die den Rand des Gasbehälters abgrenzte, immer weiter nach unten senkte.
Und Tornow hatte durch beide Geländer greifen müssen, um an die Waffe zu kommen.
Seine Augen weiteten sich, als er bemerkte, dass sein rechter Arm bereits festklemmte, unbarmherzig eingeklemmt zwischen den beiden Geländerstangen.
Rath brauchte einen Moment, bis er die Situation erfasste. Es war Tornows erster, noch unterdrückter Schmerzensschrei, der ihm klarmachte, was da gerade passierte.
»Zieh die Hand zurück, verdammt noch mal«, rief er.
»Geht nicht! Das geht nicht mehr!« Aus Tornows Stimme sprach bereits die nach ihm greifende Panik. »Halt dieses verdammte Ding an! Halt es an.«
Rath schaute sich um, als würde es hier irgendwo einen Notschalter geben oder so etwas, aber das war natürlich Schwachsinn, der Gasometer senkte sich allein durch die Schwerkraft, wahrscheinlich musste irgendjemand da unten neues Gas hineinpumpen, um die unbarmherzige Abwärtsbewegung umzukehren.
Rath kletterte auf den Wartungsgang, versuchte, die lauter werdenden Schreie des Eingeklemmten zu ignorieren, und rief, so laut er konnte, hinunter: »Anhalten! Ihr müsst den Gasometer anhalten! Wieder nach oben fahren!«
An den Gesichtern da unten konnte er nicht ablesen, ob man ihn verstanden hatte. Tornow schrie weiter, und Rath kletterte zurück auf die Kuppel, versuchte den Schreienden aus der Falle zu ziehen, doch es war zwecklos.
Verzweifelt zerrte Tornow an seinem Arm, doch es war längst zu spät. Die beiden Stahlstangen, die Geländerstange des Gasbehälters, die langsam weiter nach unten sank, und die des Laufgitters, hatten seinen Unterarm fest verkeilt und ließen ihn nicht mehr los.
Das Stahlgestänge war stärker als Tornows Unterarmknochen.
Tornow schrie wie am Spieß, als die Knochen in seinem Unterarm nacheinander mit einem hässlichen Geräusch brachen. Rath versuchte immer noch, den armen Kerl fortzuziehen, doch das ging nicht, die langsam aneinander vorbei gleitenden Stahlstangen hatten den Arm fest in der Zange. Die Pistole fiel auf das Laufgitter; Tornows Hand hing schlaff und merkwürdig verdreht über der Waffe.
Tornow schrie nicht mehr; der Schmerz hatte ihn ohnmächtig werden lassen. Doch der Gasometer arbeitete unerbittlich weiter, senkte sich Millimeter für Millimeter. Rath hörte Muskeln und Bänder reißen, weitere Knochen knacken und versuchte verzweifelt, den armen Teufel von dieser alles zerquetschenden Zange wegzuziehen, doch sie hielt ihn fest gepackt. Er dachte nicht nach, er zog und zog, voller Verzweiflung, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Und dann, mit einem Mal und einem letzten hässlichen Geräusch, das klang wie das Reißen eines Vorhangs, gab der Gasometer Tornow plötzlich frei, und Rath zog den leblosen Körper von dem Geländer weg.
Entsetzt und völlig erschöpft schaute Rath auf den bewusstlosenTornow, auf dessen rechten Arm, oder das, was davon übrig geblieben war. Aus dem Stumpf, der eigentlich kein Stumpf war, sondern ein Fetzen, ragten Knochensplitter und hingen abgerissene Sehnen und Bänder, in regelmäßigen Pulsen spritzte Blut auf das Metall der Gasglocke. Rath nahm seinen Gürtel und band Tornows Arm ab, bis das Blut aus der schrecklichen Wunde nur noch tröpfelte.
Dann kletterte er auf den Wartungsgang, überrascht, in diesem Moment keine Höhenangst mehr zu empfinden, und suchte unten nach Gennat und den Bereitschaftspolizisten.
»Einen Krankenwagen«, rief Rath hinunter in die Nacht, »wir brauchen einen Krankenwagen, verdammt noch mal! Schnell!«
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Coda
FLUCHTEN
Samstag, 12. September 1931
Time will say nothing but I told you so,
Time only knows the price we have to pay;
If I could tell you I would let you know.
W.H. Auden, If I could tell you
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119
D ie Ansage kratzte durch den Lautsprecher und klang genauso trostlos, wie Rath sich fühlte.
» Achtung, auf Gleis drei fährt ein der Schnellzug aus Hannover. Vorsicht an der Bahnsteigkante! «
Er stand mit Kirie in der Schlange am Schalter, um eine Bahnsteigkarte zu lösen. Das Gepäck hatten sie bereits aufgegeben, dennoch war Charly so nervös, dass es ihn total verrückt machte. Natürlich hatte er sie zum Bahnhof gebracht, das war eine Sache, über die sie gar nicht hatten reden müssen, eine Selbstverständlichkeit. Natürlich. Und dennoch rumorte irgendetwas in ihm und bohrte und sagte ihm, dass er es vielleicht besser doch
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