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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Er hielt sich am Geländer fest und ging in die Hocke. Unten konnte er Gennat erkennen, der mit einem Mann diskutierte, wahrscheinlich dem Nachtwächter hier. Der Buddha zeigte nach oben, und Rath versuchte, in die andere Richtung zu schauen, nach innen, um das Schwindelgefühl zu vertreiben. Das Innere des Gerüstes füllte ein gewaltiger Stahlzylinder aus, der teleskopartig ineinandergesteckte Gasbehälter, der Tag und Nacht in Bewegung war, sich aufblähte und wieder in sich zusammenfiel, so langsam wie Sonne und Mond, und genauso unerbittlich und immer wiederkehrend und unaufhaltsam. Kragarme liefen mit Führungsrollen über Schienen in den vertikalen Stahlrippen und sorgten dafür, dass die Gasglocke gleichmäßig atmete. Rath meinte sogar zu erkennen, wie sie sich langsam nach unten senkte, die Glocke war also schon dabei, wieder auszuatmen, die ganze Nacht würde das noch dauern. In kaum merklicher Geschwindigkeit sank die tonnenschwere Teleskopglocke nach unten und drückte das Gas in die Leitungen und in all die vielen Lampen, die ihren Teil dazu beitrugen, die Berliner Nacht zu erhellen.
    Erst als Rath den obersten Wartungsgang erreicht hatte, konnte er Tornow sehen.
    Er war also wirklich hier. Saß auf der riesigen stählernen Glocke, unter der sich die Gasvorräte für eine ganze Nacht und eine halbe Stadt verbargen. Nicht irgendwo, sondern genau in der Mitte, auf einem großen Ventil, das aussah wie ein stählerner Baumstumpf,gerade so groß wie ein bequemer Hocker. Neben ihm lag ein Rucksack.
    Über einen der Kragarme kletterte Rath auf die Gasglocke. Genau wie die Wartungsgänge war auch die leicht gewölbte Oberseite des Gasbehälters mit einem umlaufenden Geländer gesichert.
    Langsam näherte er sich der Mitte der Glocke, es war wie ein kleiner Hügel, den man besteigen musste; stetig ging es bergauf. Und ganz oben auf dem flachen runden Gipfel saß er, der ehemalige Schupo-Offizier, dessen hoffnungsvolle Karriere als Kommissaranwärter bereits beendet war, bevor sie richtig hatte beginnen können. Der Mann mit dem perfekten Lächeln. Sebastian Tornow, der gefallene Engel.
    Rath blieb einen knappen Meter hinter ihm stehen.
    Tornow, der ihm den Rücken zuwandte, schaute kurz über die Schulter, drehte sich dann aber wieder um, ohne etwas zu sagen. In der Hand hielt er eine halb volle Bierflasche.
    »Ich bin gekommen, um dich zu holen«, sagte Rath.
    »Das klingt, als seist du der Leibhaftige. Bist du das?«
    »Ich bin ein Kriminalkommissar, der eine Verhaftung vornimmt.«
    »Eine Verhaftung? Bestimmt nicht, weil es verboten ist, auf dem Gasometer zu sitzen und Bier zu trinken.«
    »Nein.«
    Tornow blieb sitzen und setzte die Bierflasche an.
    »Lass mich das eine Bier noch austrinken«, sagte er, »dann komme ich mit. Du weißt, wie sehr ich es vermissen werde, hier zu sitzen.«
    Rath nickte. Tornow hielt ihm eine Bierflasche hin. »Auch eins?«
    »Nein danke.« Rath schüttelte den Kopf. »Du weißt doch: Erst die Arbeit ... Ich rauche lieber.«
    Er nahm eine Zigarette aus seinem Etui, steckte sie an und setzte sich neben Tornow. »Wirklich eine schöne Aussicht von hier oben«, sagte er und blies blassen Zigarettenrauch in den Nachthimmel.
    »Aber deswegen bist du nicht hier.«
    »Nein.« Rath schaute zu Tornow hinüber, aber der starrte in die Ferne. »Heute ist der Tag, an dem die Weiße Hand zerschlagenwird. Überall in der Stadt werden in diesem Augenblick Männer festgenommen. Du bist einer davon. Außerdem wirst du des Mordes angeklagt an Jochen Kuschke ...«
    »Kuschke, dieser Idiot.«
    »... und der Beihilfe zum Mord an Eberhard Kallweit, Hugo Lenz, Rudolf Höller und Gerhard Kubicki.«
    »Mit Kubicki habe ich nichts zu tun. Das war ganz allein Kuschkes dämliche Idee. Genauso wie er diesen armen Jungen am KaDeWe ohne Grund in die Tiefe gestoßen hat.«
    »Kuschke war doch selbst in der SA. Warum ersticht er dann einen SA-Mann wie Kubicki?«
    »Das habe ich ihn auch gefragt. Angeblich, um Goldstein die Sache anzuhängen, aber in Wirklichkeit hatte es wohl andere Gründe. Für Kuschke waren alle SA-Männer, die nicht seinem Helden Stennes gefolgt sind, nur ein Haufen schwuler Bubis. So ähnlich hat er es mir jedenfalls mal zu erklären versucht.« Er schaute Rath an. »Dass er in der SA war, hätte mir eine Warnung sein müssen. Diesen Kerl in die Weiße Hand zu holen, war jedenfalls der größte Fehler meines Lebens.«
    »Aber fürs Grobe war er gut genug, nicht wahr? Hugo Lenz

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