Goldstein
seltsames Glücksgefühl; sogar ein Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht geschlichen. Alex war so müde, so am Ende ihrer Kräfte, dass es schlimmer kaum werden konnte. Ihr Entschluss stand fest; sie würde sich voll und ganz in seine Hände begeben und hoffen, dass er sie nicht im Stich ließe. Trotz allem, was passiert war.
24
G las knirschte auf dem Betonboden, jeder ihrer Schritte hallte nach in dem leeren Raum. Sie blieb stehen und horchte. Kaum etwas zu hören; das einförmige Rauschen des Verkehrslärms von der Landsberger Allee wurde nur hin und wieder einmal durch das rhythmische Rattern der nahen Ringbahn unterbrochen. Jedes kleine Schaben der Fußsohle über den Boden klang hier drinnen lauter und härter als all der wattierte Lärm von draußen.
Die alte Achsenfabrik, hatte der Schupo gesagt. Doch von den Jugendlichen, die sich hier herumtreiben sollten, war nichts zu sehen. Menschenleer, diese Ruine. Ob die hier nur nachts rumlungerten? Weil sie ganz einfach einen Platz zum Schlafen brauchten?
Irgendetwas polterte laut, als sei irgendwo in der Halle etwas umgekippt oder auf den Boden gefallen, und Charly drehte sich um. Sie konnte niemanden entdecken, bis sich aus dem Nachhallnebel das filigrane Stakkato eines Trippelns schälte und ihrem Blick die Richtung wies. Kaum hatte sie den Urheber im Blick, erstarb das Geräusch. Eine Ratte saß da mitten im Raum auf ihren Hinterpfoten und starrte den menschlichen Eindringling unverfroren an, rannte erst weiter, als Charly den nächsten Schritt tat. In diesem Müll sollten tatsächlich Menschen hausen, Kinder sogar? Unter einem Dach mit Ratten? Charly schüttelte es unwillkürlich. Am Ende der Werkshalle entdeckte sie ein Treppenhaus und stieg nach oben.
In der ersten Etage waren die Räume in einem besseren Zustand, hier waren wenigstens nicht alle Fensterscheiben eingeworfen, und auf dem Boden lagen längst nicht so viele Scherben. Durchaus vorstellbar jedenfalls, dass hier des Nachts in der ein oder anderen Ecke jemand schlief. Obwohl die Ratten mit Sicherheit auch hier oben unterwegs waren.
Ob sie das Mädchen wirklich finden würde? Sie glaubte eigentlich nicht daran, warum war sie dann hier unterwegs? Weber hatte ihr schließlich nicht aufgetragen, den ohnehin verkorksten Feierabend mit der Suche nach dem geflohenen Mädchen zu verbringen, im Gegenteil, er hatte sie davon abhalten wollen. »Das ist Aufgabe der Polizei«, hatte er gesagt, »machen Sie doch nicht alles noch schlimmer, indem Sie sich da einmischen.«
Alles noch schlimmer. Als ob das noch möglich wäre. Der Moment saß ihr immer noch in den Knochen, der Moment, in dem sie ihr Versagen erkannt hatte; als sie auf den leeren Stuhl starrte, auf die Zigaretten im Aschenbecher und dann aus dem Fenster und auf die Straße. Sie hatte Alarm geschlagen, umgehend, doch schien sich niemand für ihre Sorgen zu interessieren, überall erntete sie nur verständnislose Gesichter. Niemand räumte einer gerade entlaufenen Straßengöre höchste Dringlichkeit ein, nicht an einem Tag, an dem auf der Frankfurter Allee geschossen wurde und ein Polizist bereits sein Leben verloren hatte. Selbst die Frau vom Jugendamt hatte nur mit den Achseln gezuckt, als Charly Alarm schlug; es schien fast, als sei es ihr ganz recht, dass das Mädchen entkommen war – eine Sorge weniger.
Also war Charly selbst auf den Wagnerplatz hinausgerannt und weiter, die Magdalenenstraße hinunter, hatte selbst nach der Ausreißerin gesucht. Natürlich vergebens. Das Mädchen war längst über alle Berge. Bis zur Frankfurter Allee hinunter und zur U-Bahn war Charly noch gelaufen, dann hatte sie es aufgegeben.
Allein Weber hatte sich für ihr Problem interessiert, als er von seinem Treffen mit dem Staatsanwalt zurückgekehrt war. Der Justizrat hatte tatsächlich gebrüllt, als Charly ihm von der Flucht des Mädchens erzählt hatte. Wohl wahnsinnig geworden, einfachste Sicherheitsvorkehrungen missachtet, völlig ungeeignet für diesen Beruf. Das waren noch die eher harmlosen Vorwürfe, die er Charly um die Ohren gehauen hatte. Jedes Wort hatte ihr beinah körperlich wehgetan, hatte sie umso mehr getroffen, weil sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Wie naiv musste man eigentlich sein? Weber, diesem Arschloch, eine solche Vorlage zu geben! Der Justizrat hatte sie nach Hause geschickt und den Rest der Woche beurlaubt. »Ihnen ist ja wohl klar, dass dieser Zwischenfall noch eine Untersuchung nach sich ziehen wird«, hatte er
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