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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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ihrem Notizbuch, das sie seit ihrer Zeit in der Inspektion A immer dabeihatte, und schrieb ihre Moabiter Nummer auf. Charly legte das Papier auf die Treppenstufe, ließ Vicky am Fuß der Treppe stehen und stakste über die knirschenden Scherben zahlloser zerbrochener Fenster wieder ins Freie. Ihr Herz schlug immer noch heftig, als sie durch den löchrigen Drahtzaun stieg und zurück auf die Straße lief. Charly ging mit schnellen Schritten zur Landsberger Allee, klappte im Gehen die Handtasche auf und zählte ihr Kleingeld. Am Ringbahnhof steuerte sie die nächste Telefonzelle an.
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    I m dunklen Anzug, einen Blumenstrauß in der Hand, stand er vor der Tür mit der Messingziffer, die der Pförtner ihm genannt hatte. Er starrte auf die Zahl, zögerte hineinzugehen, zog die Hand, die bereits anklopfen wollte, wieder zurück. Eine plötzliche Unruhe hatte ihn ergriffen, eine Nervosität, wie sie ihn nur ganz selten überkam. Er trat von der Tür zurück und begann auf dem blankgebohnerten Boden auf und ab zu gehen wie ein Tiger im Käfig. Niemanden schien das zu stören, nur ein Kind, das im Schlepptau seiner Eltern durch den Stationsgang gezerrt wurde, schaute ihn länger und neugierig an. Er hatte sich gerade entschlossen, doch hineinzugehen, trotz aller Bedenken, da öffnete sich unerwartet und plötzlich die Tür, und ein Schwarzhut kam heraus, musterte den Besucher und dann den Blumenstrauß mit ernster Miene, um dann weiter seiner Wege zu gehen. Der Bart und die Schläfenlocken ließen den Mann älter aussehen; Goldstein, den Anblick von Schwarzhüten von klein auf gewohnt, schätzte ihn auf höchstens dreißig, eher Mitte zwanzig. Der kurze Moment, da die Tür offen stand, hatte gereicht, um einen Blick auf die übrigen Besucher zu werfen, die sich noch im Raum befanden, und das waren eine ganze Menge. Es sah aus, als habe sich mehr oder weniger die gesamte Familie rund um das Krankenbett versammelt, darunter ein weiterer Mann im schwarzen Kaftan. Alle anderen aber waren normal gekleidet.
    Goldstein atmete tief durch, als die Tür sich wieder geschlossen hatte und der junge Jude am Ende des Ganges im Treppenhaus verschwunden war.
    Die Sache mit der Besuchszeit war wohl doch keine gute Idee gewesen. Er konnte nicht dort hinein, nicht zu all diesen Leuten. Er kam sich mit einem Mal ungeheuer deplatziert vor mit seinem Blumenstrauß.
    Dabei hatte bislang alles prima funktioniert. Niemand hatte sich gewundert, der Pförtner ihm ohne Umschweife die Zimmernummer herausgesucht, als er den Namen des Patienten genannt hatte. Mit dem Blumenstrauß in der Hand und in seinem einfachen dunklen Einreiher hatte Abraham Goldstein ausgesehen wie ein ganz normaler Krankenhausbesucher. Zur offiziellen Besuchszeit liefen jede Menge Blumenstraußträger über das Gelände, da war er nicht weiter aufgefallen. Es schien alles ganz einfach zu sein.
    Aber die Sache war nicht einfach, ganz und gar nicht war sie das. Goldstein ging vor der Tür auf und ab, unschlüssig, was genau zu tun sei. Die Leute da drinnen konnten ihn unmöglich erkennen, er überlegte, ob er nicht einfach warten sollte, bis die Familie wieder gegangen war, dann aber fasste er einen Entschluss, drückte die hübsch gebundenen Blumen einer verdutzten Krankenschwester in die Hand und verließ die Station auf demselben Wege, auf dem er sie betreten hatte.
    26
    A m Publikumseingang, hatte sie gesagt, aber sie war noch nicht da, als Rath um die Ecke bog und die Gerüste des Alexanderhauses den Blick auf das Polizeipräsidium freigaben. Der Eingang an der Grunerstraße, direkt an den Stadtbahnbögen, war der einzige mit einer halbwegs respektgebietenden Freitreppe. Obwohl man nicht sagen konnte, dass das Polizeipräsidium als Ganzes Gefahr lief, zu wenig respektiert zu werden: Der ganze kolossale Backsteinbau, größer noch als das Stadtschloss, war einzig zu diesem Zweck gebaut worden, und gemessen an diesem Ziel war die Architektur durchaus als gelungen zu bezeichnen. Rote Burg hieß das Präsidium bei den Berlinern. Die meisten Polizisten nannten ihren Arbeitsplatz kurz und knapp einfach Burg , andere etwas weniger respektvoll Fabrik .
    Draußen auf der Treppe sollte er auf sie warten, nicht drinnen beim Pförtner und auch nicht in seinem Büro. Sie hatte nicht gesagt, warum, aber Rath vermutete, dass Charly keine große Lust verspürte, irgendwelchen Kollegen über den Weg zu laufen. Und das konnte einem an dieser Ecke wirklich kaum passieren, so viele Leute hier auch

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