Goldstein
ihren Kopf nach rechts und links gedreht, ohne sie zu entdecken, jetzt war sie nicht mehr zu sehen. Natürlich konnte jeden Moment wieder jemand aus diesem Fenster schauen, aber es half nichts, sie konnte nicht ewig hier hocken bleiben, sie musste weiter, bevor die Bullen wieder hinter ihr her waren. Auch wenn jeder Schritt höllisch schmerzte. Sie versuchte, mit dem linken Bein immer nur ganz kurz aufzutreten und es möglichst wenig zu belasten, aber selbst bei diesen kurzen, tippenden Schritten zuckte jedes Mal ein stechender Schmerz vom Knöchel durch das ganz Bein, ein Gefühl, als müsse ihr Fußgelenk jeden Moment abknicken. Sie biss die Zähne zusammen und humpelte weiter, immer weiter, blickte sich nicht um, schaute nur nach vorn. Bis zur U-Bahn musste sie es schaffen, das war ihre einzige Chance. Wenn nicht wieder so ein dämlicher Schaffner ... Scheiße, denk nicht an so was!
Sie hatte die Frankfurter Allee fast erreicht, da schaute sie sich doch einmal um. Kein Verfolger zu sehen, niemand, der hinter ihr her war, weder in Uniform noch in Zivil. Verdammt, sollte sie es wirklich schaffen, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen? Der Verkehrslärm auf der Frankfurter Allee beflügelte ihre Schritte, das Stakkato der Schmerzen, die in ihren Knöchel stachen, wurde schneller und schneller, ihr Atem ebenso. Verdammt, diese blöden Schmerzen, erst die lädierte Hand, nun auch noch der Knöchel!
Und dann stand sie an der U-Bahntreppe. Sie schaute sich noch einmal um; weiter unten auf der Frankfurter Allee gab es irgendeinen Tumult, wahrscheinlich Arbeitslose, die ihre Wut an den Bullen ausließen, sie hörte die wütenden Rufe der Proleten bis hierhin, obwohl das Ganze fast einen Kilometer entfernt sein musste, wie blaue Tupfer konnte sie die Uniformen in der Menschenmenge erkennen. Von irgendwoher heulte das Signal eines Überfallwagens kurz auf. Langsam schwante ihr, warum es so leicht gewesen war zu entkommen, warum niemand ihr gefolgt war: Die Bullen hatten gerade andere Sorgen als ein achtzehnjähriges Straßenmädchen, das ausgebüxt war.
Unbehelligt kam sie die Treppen hinunter und auf den Bahnsteig. Kein Mensch interessierte sich für sie, ein humpelndes Mädchen halt, na und! Sie schleppte sich ein paar Meter den Bahnsteig entlang, lehnte ihre Stirn an einen kühlen Stahlträger und schloss die Augen. Sie wusste nicht, wie lange sie ihrer Erschöpfung nachgegeben hatte, aber plötzlich schreckte sie hoch, als sie spürte, wie ihr jemand etwas Kaltes in die rechte, unverletzte Hand drückte. Sie schlug die Augen auf und schaute in den Handteller, den sie unwillkürlich geschlossen hatte und nun wieder öffnete. Ein Markstück!
Alex blickte sich um. Ihr erster Impuls war, das Geld zurückzugeben, sie war doch keine Bettlerin! Doch an wen? Ihr Wohltäter gab sich nicht zu erkennen, die Menschen wirkten unbeteiligt wie eh und je, jeder nur mit den eigenen Sorgen beschäftigt. Alex wusste nicht einmal, bei wem sie sich hätte bedanken können, also steckte sie die Mark einfach ein. Wenigstens hätte sie jetzt Geld, sollte sie wieder einem Schaffner in die Arme laufen. Wenigstens Geld, wenn sie ihr schon das Messer abgenommen hatten und auch sonst alles, was sie in der Tasche trug, sogar die gerade erst angebrochene Sechserpackung Juno.
Aus der östlichen Röhre rauschte eine Bahn heran, und Alex stieg ein. Wohin sollte sie fahren? Wo aussteigen? Ihr fiel kein Ort mehr ein in dieser Stadt, den sie hätte besuchen können. Wohnung B war verbrannt, Wohnung A zu gefährlich. Benny war tot, Kalliwar tot. Niemand mehr da in dieser riesigen Stadt, der ihr helfen konnte, kein Ort mehr, an dem sie sich sicher fühlen konnte.
Doch, einen Ort gab es noch, einen einzigen. Über ein Jahr war sie nicht mehr dort gewesen, und es würde ihr nicht leichtfallen, dort aufzukreuzen und ihn um Hilfe zu bitten, sie wusste nicht einmal, wie er reagieren würde, wenn er sie sähe, ob er ihr überhaupt zuhören würde. Und dann, wenn er ihre Geschichte gehört hatte, was würde er tun? Die Bullen holen sicherlich nicht, aber davonjagen, damit musste sie rechnen. Aber wenn er ihr nicht helfen würde, dann wäre sowieso alles vorbei. Völlig erschöpft vom Schmerz, von der Anspannung und all den Anstrengungen dieses Tages ließ sie sich auf einen Sitz fallen. Und dann, angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage, die sie geradezu beruhigte, weil sie keine andere Entscheidung mehr zuließ, überkam sie mit einem Mal ein
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