Goldstück: Roman (German Edition)
seltsam erstickt, und ich bin mit einem Schlag hellwach.
»Stefan? Was ist los?« Ich merke, wie mir auf einmal heiß und kalt wird, eine unergründliche Panik ergreift von mir Besitz.
»Maike«, sagt er schließlich wieder, und jetzt kann ich hören, dass er offenbar weint. »Du musst sofort kommen. Es ist etwas Schreckliches passiert.«
Der Wartebereich der Notaufnahme im Universitätsklinikum ist ein großer Glaskasten, fast wie die riesigen neuen Aquarien im Hamburger Zoo. Außer uns ist niemand da, worüber ich gerade sehr froh bin. Seit zwei Stunden sitzen Stefan, meine und Kikis Eltern – Onkel Jürgen und Tante Simone – hier aufgereiht wie die Hühner auf der Stange und warten darauf, dass der Arzt zu uns kommt und die erlösenden Worte spricht: »Ihrer Tochter geht es gut.«
Als ich ankam, war gerade eine Ärztin bei meinen Verwandten und erklärte ihnen irgendetwas, von dem ich nicht einmal die Hälfte verstand. Aneurysma, Ruptur, intrazerebrale Blutung und viele andere Begriffe, die mir nicht das Geringste
sagten, prasselten auf uns nieder. Einzig das Wort Hirnblutung hatte ich schon einmal gehört. Stefan und die anderen hingen an den Lippen der Ärztin, sie alle sahen aschfahl aus, mit tiefen Rändern unter den Augen. Jetzt sehen sie noch genauso aus, keiner von ihnen – mich eingeschlossen – spricht auch nur ein Wort, wir alle starren nur fassungslos vor uns hin.
Nach meiner Ankunft erzählte Stefan mir mit stockender Stimme, was passiert war. Dass Kiki heute Nacht gegen halb drei aufgewacht war und sich übergeben musste. Wie sie auf dem Weg zum Bad hingefallen war, nicht mehr aufstehen konnte und plötzlich nicht mehr ansprechbar war. Dass er den Rettungswagen gerufen hatte, der Kiki mit Blaulicht in die Klinik brachte. Momentan ist sie im OP. Wir wissen nicht genau, was los ist. Außer dass gerade in diesem Augenblick ein Team von Neurochirurgen um Kikis Leben kämpft. Um ihr Leben! Es geht hier nicht um einen gebrochenen Arm oder einen entzündeten Blinddarm. Wieder spüre ich, wie mir gleichzeitig heiß und kalt wird. Es geht um ihr Leben.
Die Zeit zieht sich wie Kaugummi, die Stille lastet unerträglich auf meinen Schultern, aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Hin und wieder steht einer von uns auf und wandert unruhig durch den Raum. Ich kann immer noch nicht begreifen, was wir hier machen. Zwischendurch zwicke ich mich zwei-, dreimal verstohlen in den Arm, in der Hoffnung, dass das hier nur ein böser Traum ist. Es kann doch nicht sein, dass wir gerade im Krankenhaus sitzen und darauf warten, dass man uns sagt, wie Kikis Operation verlaufen ist. Das kann einfach nicht sein! Eben war doch noch alles in Ordnung! Na ja, jedenfalls fast in Ordnung, okay, es gab diesen Streit an meinem Geburtstag, aber in diesem Augenblick kommt mir das alles so weit entfernt vor, als wäre es in einem anderen Leben passiert.
»Kiki«, höre ich mich selbst auf einmal flüstern und erschrecke vor meiner eigenen Stimme.
Stefan, der neben mir sitzt, blickt auf und versucht so etwas wie ein Lächeln hinzubekommen. Er nimmt meine Hand und drückt sie. Er klingt nicht gerade zuversichtlich, als er sagt: »Es wird bestimmt alles gut!«
»Und wenn nicht?«, frage ich.
Er schweigt. Auf so eine Frage kennt niemand eine Antwort.
Endlich – es kommt mir vor, als hätte es Lichtjahre gedauert – betritt ein Arzt den Raum. Er trägt einen grünen Kittel und eine Haube, ein Mundschutz baumelt um seinen Hals. Zeitgleich springen wir alle auf, keiner von uns erträgt es, die Nachrichten, die der Mann für uns hat, im Sitzen anzuhören. Ich ergründe sein Gesicht, studiere seine Augen, versuche zu erraten, was der Arzt uns jetzt gleich sagen wird.
»Ich«, fängt er an – und in diesem Moment bricht alles in mir zusammen. Denn mit einem Schlag weiß ich, was er sagen wird. »Ich … Es tut mir leid, sie hat es nicht geschafft.« Das Letzte, was ich höre, ist der Aufschrei meiner Tante. Dann sehe ich, wie der Boden rasend schnell auf mich zukommt, und im nächsten Moment wird es schwarz um mich.
»Wenn Engel sterben, erklingen im Himmel die schönsten Lieder für sie.« Ich weiß nicht, wer diesen Spruch in großen Lettern auf die herzförmige Pappe geschrieben hat, die inmitten des Blumenmeeres liegt, das sich links und rechts vom Sarg ausbreitet. Eine Freundin von Kiki? Ein Kunde? Ich starre auf den Spruch und frage mich, was das für schöne Lieder sein sollen, die angeblich erklingen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher