Goldstück: Roman (German Edition)
ein »Engel« aus dem Leben gerissen wird. Der Gedanke macht mich regelrecht wütend, wer hat diesen pathetischen Scheiß auf Kikis Abschiedsblumen gelegt? Als wäre sie ein Engel gewesen. Natürlich war sie das, irgendwie, aber nur im übertragenen Sinne, und wer hat überhaupt das Recht, wer kennt sie so gut, sie einen Engel zu nennen? Und wer will wissen, was da oben im Himmel gera
de abgeht, ob da die schönsten Lieder gespielt werden oder ob nicht vielmehr ein höhnisches Lachen erklingt, weil da ein echter Coup gelungen ist, einen jungen Menschen, der es weniger verdient hat als alle anderen, mitten aus dem Leben zu reißen?
Am liebsten würde ich aufspringen und das Pappherz in Millionen Stücke zerfetzen. Aber ich sitze bewegungsunfähig in der ersten Reihe der Kapelle, in der gerade Kikis Trauergottesdienst abgehalten wird. Der Raum ist zum Bersten gefüllt, sicher mehr als hundert Menschen haben den Weg hierher gefunden, um meiner Cousine die sogenannte »letzte Ehre« zu erweisen.
Vorne am Pult steht der Pastor und erzählt irgendetwas, was ich nicht verstehe, seine Worte rauschen an mir vorüber, ebenso das unterdrückte Schluchzen meiner Eltern, meiner Tante und meines Onkels und der vielen, vielen anderen, die ihre Tränen nicht unterdrücken können oder wollen. Nur ich hocke starr und sprachlos da, keinen Laut bringe ich hervor. Direkt neben mir meine Mutter, die meine Hand hält und sie immer wieder drückt, doch auch das spüre ich kaum, ebenso wenig wie die harte Kirchenbank, auf der wir sitzen. Ich spüre nichts, gar nichts, bin wie abgeschnitten und taub und weiß nicht, ob ich jemals wieder etwas spüren werde.
Nach dem Pastor tritt Kikis Vater nach vorn und richtet ein paar Sätze an die Gemeinde, dann folgt Stefan, der aber nur eine Minute schweigend am Mikrophon steht und dann schluchzend, gestützt von Kikis Vater, zurück zu seinem Platz wankt. Danach passiert eine ganze Zeit lang nichts, und erst als meine Mutter mir mehrfach mit dem Ellbogen in die Seite stößt, begreife ich, dass der Pastor offenbar mich dazu aufgefordert hat, nach vorn zu kommen. Wollte ich etwas sagen? Ich kann mich gerade nicht erinnern, dass da etwas abgesprochen war. Doch dann flüstert Mama mir ein »Die Musik!« ins Ohr, und schließlich erinnere ich mich daran, was ich tun wollte.
Vorsichtig stehe ich auf und gehe unter den Blicken der Trauergemeinde nach vorn zum Pastor. Er nickt mir zu und deutet auf die Anlage, die neben dem Rednerpult steht. Alles ist vorbereitet, ich muss nur noch den richtigen Knopf drücken. Ich beuge mich hinunter, und dabei fällt mein Blick auf den großen Strauß, der direkt neben Kikis Sarg liegt. Zartrosa und weiße Teeröschen. Dieses Gebinde ist von mir. Ich weiß, dass Kiki keine Kränze mag, das hier waren immer ihre Lieblingsblumen. »In Liebe, dein Goldstück« steht in geschwungener Schrift auf der großen Schleife, mit der der Strauß zusammengehalten wird. Es schien mir auf einmal der einzig richtige letzte Gruß, den ich meiner Cousine mit auf den Weg geben konnte. So wie das Lied, das aus den Lautsprechern ertönt, sobald ich auf »Play« gedrückt habe:
If you should ever leave me
Though life would still go on, believe me
The world could show nothing to me
So what good would living do me?
God only knows what I’d be without you
Als der letzte Ton erklingt, erhebt sich die Gemeinde. Sehr langsam, wie in Trance, folgen wir Kikis Sarg, den nun mein Vater, mein Onkel und vier weitere Männer aus der Kapelle tragen. Ich höre das Schlurfen meiner Schritte, als wir über den kleinen Kiesweg gehen. Es ist ein sonniger Tag, die Vögel zwitschern fröhlich, doch gleichzeitig liegt eine merkwürdige Ruhe über der gesamten Szene wie eine riesige Glasglocke. Hin und wieder meine ich, ein leises Murmeln zu hören oder ein Schluchzen, doch nichts dringt wirklich zu mir vor.
Mama geht noch immer neben mir, daneben Papa, direkt hinter Onkel Jürgen, Tante Simone und Stefan folgen wir dem Trauerzug. Ich werfe einen flüchtigen Blick über die Schulter,
irgendwo weiter hinten erkenne ich Nadine und Ralf, selbst Roger ist gekommen, obwohl er Kiki nur flüchtig kannte. Überhaupt scheint die Schlange, die Kikis Sarg folgt, nicht mehr enden zu wollen, so viele Menschen sind hier. So viele Menschen, die sie gemocht, geliebt oder bewundert haben, denen sie etwas bedeutet hat, für die sie da war. So wie für mich. Wenn ich gestorben wäre, denke ich, obwohl ich versuche, diesen
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