Goldstück: Roman (German Edition)
Gedanken zu verhindern, wäre die Schlange mit Sicherheit sehr, sehr viel kürzer. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass so viele Menschen sich versammeln würden, um meinen Tod zu betrauern. Ach, Maike, schimpfe ich mit mir selbst, sogar in einem Moment wie diesem fällt dir nichts Besseres ein, als dich in Selbstmitleid zu flüchten.
Am Grab – eine hübsche, sonnige Stelle, rechts und links davon zeugen frische Blumen von ebenfalls neuen Grabstätten – spricht der Pastor noch ein paar Worte. Dann wird Kikis Sarg mit einer Seilwinde in die Erde gelassen, die Trauergemeinde sieht schweigend zu, wie die schwere Holzkiste in der Erde versinkt. Es ist nicht die erste Beerdigung, der ich beiwohne – aber die erste, bei der ich das Gefühl habe, überhaupt nicht anwesend zu sein. Wie ein Traum, aus dem man verzweifelt erwachen möchte, in dem man so lange strampelt und schreit, bis man schließlich schweißgebadet und mit Herzrasen aus dem Schlaf hochfährt. Aber ich weiß, dass es kein Traum ist. Ich kann so lange schreien und strampeln, wie ich will, nichts wird mich aus diesem Alptraum wecken.
Einer nach dem anderen tritt nun ans Grab, nimmt den kleinen Spaten, der in der Sandkiste daneben steckt, wirft Erde in die Tiefe, die prasselnd auf dem Sargdeckel landet, und gedenkt meiner Cousine noch ein paar Momente in stiller Zwiesprache. Wieder ist es meine Mutter, die mich anschubst, als ich an der Reihe bin. Ich trete an das dunkle, offene Loch vor mir, dann nehme ich die Schippe. Aber ich kann es nicht. Bewegungslos
verharre ich, starre in die Tiefe und spüre, wie eine Art Sog nach mir greift.
Ein lautes Schluchzen erklingt, ein lautes, hemmungsloses, verzweifeltes Schluchzen, und ich begreife erst, dass ich es selbst bin, als mein Vater hinter mich tritt, die Arme um mich legt und mich mit einem sanften »Es ist gut, mein Liebling« von der Grabstätte wegführt. Noch immer weine ich, jetzt noch lauter und verzweifelter als zuvor, verberge mein Gesicht an der Schulter meines Vaters und spüre die heißen Tränen, die über meine Wangen strömen und sein Jackett vollkommen durchnässen.
Wieder und wieder streichelt er mir über den Kopf. »Es ist gut, mein Liebling«, wiederholt er, »alles ist gut.«
Nein. Es ist nicht gut. Und es wird auch nie wieder gut sein.
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10. Kapitel
D ie Wochen nach Kikis Beerdigung sind erfüllt von Schmerz. Schmerz, wenn ich morgens wie gerädert aufwache, Schmerz, wenn ich die endlos langen Stunden in meinem Zimmer sitze, ins Leere starre, bis der Schlaf mich überwältigt, und am nächsten Morgen nach einer weiteren unruhigen Nacht die Augen aufschlage. Kaum habe ich das getan, trifft mich der Schmerz erneut mit voller Wucht und zwingt mich in die Knie. Erst wenn ich mir am späten Nachmittag erlaube, ihn mit Hilfe von zwei, drei Gläsern Wein zu betäuben, geht es ein bisschen besser, obwohl ich natürlich weiß, dass das auf Dauer keine Lösung ist. Irgendwann werde ich wieder anfangen müssen, mein normales Leben aufzunehmen und ins Sonnenstudio zu gehen.
Zwar hat Roger mir angeboten, dass ich so lange aussetzen kann, wie ich will – aber selbst in meinem Kummer ist mir klar, dass ich es mir nicht ewig leisten kann, nicht zur Arbeit zu gehen. Zum einen, weil ich ohnehin schon pleite bin, zum anderen, weil ich kaum davon ausgehen kann, dass Roger nicht irgendwann eine andere einstellt. Und das müsste er wahrscheinlich bald. Denn, Ironie des Schicksals: Seit Kikis Beerdigung hat es jeden Tag geregnet, und wir haben einen regelrechten Temperatursturz zu verzeichnen.
Jedenfalls, wenn es stimmt, was der Wetterbericht im Fernsehen so verkündet, denn genau genommen bin ich in letzter Zeit nicht mehr vor die Tür gegangen und habe auf Vollverpflegung durch das Pizzataxi umgestellt. Nun ja, danke, Kiki, dass du aus dem Jenseits so lieb an deine Cousine denkst – aber deine Cousine ist momentan zu nichts zu gebrauchen. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und vegetiert vor sich hin, sie
geht nicht ans Telefon und stellt die Türklingel nur dann an, wenn sie den Pizzamann erwartet. Na gut, alle paar Tage meldet sie sich bei ihren Eltern, gaukelt ihnen vor, dass alles prima sei, damit sie nicht die Polizei rufen oder ihr sonst wie auf die Nerven gehen. Und mit Nadine plaudert sie auch hin und wieder, die versucht, sie dazu zu überreden, mal wieder vor die Tür zu gehen, was sie natürlich nicht tut. Aber das war es dann auch schon, sie
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