Goldstück: Roman (German Edition)
verlässt die Wohnung höchstens, wenn ihr der Fusel ausgeht und sie zur Nachttanke muss.
Die Wohnung. Unsere Wohnung. Überall steckt Kiki, in jeder Ecke lauern Erinnerungen an sie, sie ist in jedem Möbelstück, in jeder Tasse, jedem Teller, sogar im Haarshampoo auf dem Duschregal. Unser früheres gemeinsames Wohnzimmer betrete ich nicht mehr, die Küche auch nicht, Pizzakartons und leere Flaschen lassen sich auch ganz hervorragend unter meinem Bett stapeln, und in Kikis Zimmer war ich natürlich erst recht nicht mehr. Meine Besuche im Badezimmer absolviere ich sekundenschnell, und ehrlich gesagt nehme ich es seit Wochen mit der Körperhygiene eh nicht mehr so genau. Ist doch egal, ob ich hier vor mich hin muffele – sieht ja sowieso keiner! Nur in Kikis Büro war ich noch ein einziges Mal für längere Zeit. Als kurz nach ihrem Tod – da hatte ich die Türklingel noch nicht abgestellt – drei ihrer Kunden hier aufgetaucht waren, weil sie einen Termin mit meiner Cousine und noch nichts von den Ereignissen mitbekommen hatten, habe ich mich dazu aufgerafft, an Kikis Computer zu gehen. Dort habe ich ihr Adressbuch und ihren Terminkalender aufgerufen und allen Klienten eine Mail geschrieben. Das war das Einzige, was ich gemacht habe.
Ansonsten ist in der Wohnung noch alles so, wie es in der Nacht war, in der Kiki ins Krankenhaus kam. Zwar haben Onkel Jürgen und Tante Simone mich nach der Beerdigung darum gebeten, bei Gelegenheit Kikis Sachen zusammenzupacken, weil sie es, wie sie sagten, nicht könnten – nur vermag ich es genau
so wenig. Und noch viel weniger bin ich in der Lage, darüber nachzudenken, wie es jetzt weitergehen soll. Natürlich werde ich hier nicht ewig so wohnen bleiben, umgeben von Kikis Sachen, in einer Bude, die ich mir allein überhaupt nicht leisten kann – und die ich ja auch bis auf mein Zimmer momentan gar nicht nutze. Aber ich bin schlicht und ergreifend zu erledigt, um irgendwelche Pläne zu machen, also verharre ich in meiner Starre und warte einfach ab, was passiert.
Mama und Papa haben mir angeboten, erst einmal wieder bei ihnen einzuziehen. »Wir kümmern uns um dich, und du konzentrierst dich in Ruhe auf dein Studium«, hatte Papa gesagt. Hätte ich auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen, dieses Angebot anzunehmen – spätestens mit der Erwähnung meines Studiums wäre mir die Lust darauf vergangen. Natürlich hätte ich ihnen jetzt einfach auch mal die Wahrheit sagen können. Was ist schon ein vergeigter Uni-Abschluss in Anbetracht der Tatsache, dass Kiki nicht mehr lebt? Aber ich hatte keinen Bock, mit ihnen darüber zu reden, denn auch, wenn sie momentan wirklich sehr verständnisvoll und nett sind und mich ständig fragen, ob sie mir irgendwie helfen können – ich weiß ja, dass sie in spätestens einem halben Jahr finden werden, jetzt sei es nun aber wirklich an der Zeit, sich mal wieder »zusammenzureißen«.
Das ist echt das Letzte, was ich mir momentan anhören möchte. Ich will mich nicht zusammenreißen. Ich will mich treibenlassen und gar nichts tun, einfach in die Tage hineinleben, Chianti trinken, mich weinend auf meinem Bett zusammenrollen – und sonst nichts.
Klopf, klopf, klopf. Klopf, klopf, klopf! Ich wache auf und blicke verwirrt um mich. Was ist das für ein Geräusch? Wo bin ich? Die zweite Frage kann ich relativ schnell beantworten: Ich liege in meinem zerwühlten Bett, der Fernseher läuft in voller
Lautstärke – offenbar bin ich gestern wieder bei einem Film eingeschlafen –, neben mir auf dem Boden stehen ein Glas, eine leere Flasche Chianti und ein Karton mit einer halb gegessenen Calzone. Klopf, klopf, klopf! Da ist es wieder, dieses Geräusch, diesmal noch lauter als zuvor.
Ich setze mich auf und merke, dass ich einen ziemlich dicken Schädel habe. Kein Wunder, denke ich, als ich aus dem Bett steige und dabei über die zweite leere Flasche stolpere. Das Letzte, wor-an ich mich erinnere, ist eine Verfolgungsjagd in dem furchtbar schlechten Thriller, den ich mir gestern Abend reingezogen habe – darüber muss ich irgendwann eingeschlafen sein. Klopf, klopf, klopf! Das Geräusch kommt eindeutig aus dem Flur, jemand scheint draußen gegen die Wohnungstür zu bollern.
»Moment!«, brülle ich. »Ich komm ja schon!« Eilig ziehe ich mir eine Jogginghose und ein ausgeleiertes Sweatshirt an, dann stolpere ich über die diversen Klamotten, die auf dem Boden meines Schlafzimmers herumliegen, hinaus in den Flur. Wieder macht es
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