Golem stiller Bruder
zum Himmel, als wolle sie dem Ewigen zeigen, welches Leid sie getroffen hatte. Jankel bückte sich und drehte Rocheles Kopf zur Seite, als sie an der Frau und ihrem toten Kind vorbeigingen.
I ch dachte an meinen Onkel, an die Trauer in seiner Stimme, als er gesagt hatte: Ich habe in meinem langen Leben schon zu viele Tote gesehen. Und ich verstand, dass ich die gleichen Worte irgendwann, wenn ich alt war, auch sagen würde. Der Tod holt mich ein, dachte ich, er wird mich immer einholen, er lauert mir seit jenem Tag auf, an dem Rochele geboren wurde, an dem Tag, an dem ich die Anwesenheit des Todesengels zum ersten Mal gespürt hatte. Und mein Vater? Ich glaube, in diesem Moment, als ich mit meiner kleinen Schwester durch die geschändete Judenstadt ging, hielt ich es für möglich, dass er nicht mehr lebte, aber es war kein Gedanke, bei dem ich mich aufhielt, nicht jetzt. Mein Kopf war zu leer.
S ie erreichten das Haus. Jankel drückte die Tür auf, und sie traten ein, noch immer Hand in Hand. Frume wickelte gerade den Säugling, doch als sie Rochele sah, drückte sie Surele die Windel in die Hand und breitete wortlos die Arme aus. Eine seltsame Traurigkeit ergriff Jankel, trotzdem hob er seine kleine Schwester hoch, trug sie durch den Raum und hielt sie Frume hin. Frume schlang die Arme um Rochele, die den Kopf an ihren Hals legte, wie sie ihn früher an Tante Schejndls Hals gelegt hatte. Über die Schulter des Kindes hinweg schaute Frume den Jungen lange an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Plötzlich fiel Jankel auf, wie ähnlich sie ihrem Vater sah. Er lächelte zu rück.
20. Kapitel
Der Dämon der Zerstörung
F reude und Leid sind es, die Menschen zueinanderbringen, es ist, als könnte ein Einzelner ein Übermaß an Gefühlen nicht allein ertragen, als suche er seine Mitmenschen, um die Erschütterungen seiner Seele mit ihnen zu teilen.
Als Jankel die Altneuschul betrat, drängten sich die Menschen schon im Vorraum zusammen. Er blieb auf der obersten Stufe stehen und ließ den Blick über die Menge schweifen, aber weil er Schmulik nicht entdecken konnte, bahnte er sich einen Weg zum Inneren der Synagoge, wo das Gedränge noch größer war. Alle redeten, alle erzählten einer dem anderen, wie es ihnen ergangen war, und ihren zitternden Stimmen waren noch die Angst und der Schrecken anzuhören, die Aufregung und die Empörung.
I ch suchte Schmulik, meine Blicke wanderten über die Köpfe hinweg, über all die schwarzen, braunen, blonden und grauen Haare, aber nirgendwo konnte ich rote entdecken.
Das Haus des Hohen Rabbis war unbeschädigt geblieben, Tante Perl und Jente hatten mich überschwänglich begrüßt, Tante Perl hatte mich unter Freudentränen umarmt und immer wieder die gleichen Worte gesagt: »Dass du wieder da bist, dem Ewigen sei Dank, dass du wieder da bist«, und erst dann hatte sie gefragt: »Wo ist Rochele?« Und als ich antwortete: »Bei Frume natürlich, sie sind alle wohlauf«, hatte sie mich noch einmal umarmt und geküsst.
Im Studierzimmer des Rabbis hatten sich die Ältesten versammelt, und ständig kamen Männer, um zu berichten, was vorgefallen war. Ich hatte immer nur an Schmulik gedacht und mich deshalb aufgemacht, ihn zu suchen. Und weil ich alle zur Altneuschul strömen sah, war ich ihnen gefolgt. Aber hier war er nicht und meine Unruhe wuchs.
W ährend Jankel sich durch die Menge schob, drangen immer wieder Worte an sein Ohr. Männer beklagten sich darüber, was die Angreifer zerstört hatten, und ein anderer, in dem Jankel Reb Berel erkannte, den Vorsteher der Armenbruderschaft, verkündete feierlich: »Wir werden sammeln und Reb Meisl wird uns nicht im Stich lassen. Jedem, der Hilfe braucht, wird geholfen werden. Ein Jude bürgt für den anderen.«
Jankel betrat den Innenraum der Synagoge, aber auch hier entdeckte er keine Spur von seinem Freund. Er wollte schon zum Ausgang zurückkehren, da hörte er jemanden sagen: »Josef hat uns gerettet, dem Ewigen sei Dank, aber warum ist er erst so spät gekommen?«
»Weil er zuerst bei uns war«, sagte ein anderer. »Wir hatten uns vor dem Tor versammelt, mit Eisenstangen und Keulen, und hofften, wir könnten die Angreifer zurückdrängen. Aber es waren zu viele, ohne Josef wären wir verloren gewesen.«
Ein älterer Mann mischte sich ein. »Bei uns war er auch, er hat die Feinde, ausgelöscht seien ihre Namen, davon abgehalten, ins Waisenhaus einzudringen.«
Jankel spürte ein warmes Gefühl der
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