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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Taubenaugen ernst an. Er küsste ihr weißes Gesicht, streichelte noch einmal über ihre Haare und griff nach den Gebetsmänteln, um sie zuzudecken. Er hob einige der Gebetsmäntel hoch und zuckte zurück, er hatte ein Mäusenest aufgedeckt, die noch nackten, rosafarbenen Tiere bewegten sich wie Würmer, ihn ekelte und er hätte die Mäntel am liebsten fallen gelassen. Doch dann riss er sich zusammen, schüttelte den Stoff mit den nackten Mäuschen in einer Ecke aus, trug die Gebetsmäntel zu seiner Schwester und ließ sie auf sie fallen, unordentlich, damit es aussah, als läge hier nur ein Haufen alter, unbrauchbarer Lumpen, und prüfte, indem er ein paar Schritte zurücktrat, ob wirklich nichts mehr von Rochele zu sehen war.
    Dann lief er zu einem Fenster auf der Rückwand, öffnete die Luke und schaute hinaus. Die Sonne war aufgegangen, die Gassen unter ihm lagen in einem strahlenden Licht, das so gar nicht zu dem passte, was er sah, Juden, die durch Höfe flohen, sich unter Abfallhaufen wühlten, kleine Kinder unter Bretter schoben oder sie auf Hausvorsprünge setzten, wo sie dann saßen wie die Figuren auf den Simsen christlicher Kirchen. Auf einem Baum entdeckte er drei Juden, die sich in die Krone geflüchtet hatten und dort kauerten wie riesige Raben. Von unten, von der Straße aus, waren sie nicht zu erkennen, aber von hier oben sah es aus, als hingen dort im Laub, das sich schon herbstlich verfärbte, drei überreife, fremdartige schwarze Früchte, die bald abzufallen drohten, und Jankel dachte, wenn der Ewige und seine Engel von oben herunterschauen, werden sie bei diesem Anblick bestimmt in himmlisches Gelächter ausbrechen.
    Hier unten aber gab es keinen Grund zum Lachen, hier unten herrschte Heulen und Wehklagen, denn nun kamen die Angreifer von beiden Seiten immer näher, es mussten Hunderte sein, und die Rufe »Schlagt sie tot!« wurden lauter. Da flogen auch schon die ersten Steine, Knüppel und Stöcke sausten durch die Luft, Türen zersplitterten unter den Schlägen. Einige der Angreifer drangen in Häuser ein, entsetzte Schreie waren zu hören, Gegenstände wurden aus Fenstern geworfen, Holz zerbarst, Glas splitterte, irdenes Zeug zerbrach in tausend Stücke. Doch dann stockte Jankel der Atem und sein Herzschlag setzte aus, als er aus einem Fenster ein Stoffbündel durch die Luft fliegen sah. Es war ein Steckkissen, wie man es für Säuglinge benutzt, und es krachte mit einem dumpfen Knall auf das Pflaster. Jankel zog den Kopf zurück und schlug die Hände vors Gesicht.
    »Los, dorthin«, schrien die Angreifer und deuteten auf die Altneuschul, »dort sind sie! Schlagt sie tot!«
    Jankel lief zu Rochele, schrie fast: »Keinen Mucks, nicht rühren, hast du verstanden?« Ihr »Ja« kam dumpf unter dem Stoff hervor und er rannte zurück zum Fenster. Er wagte kaum hinauszuschauen, bewegte sich langsam und vorsichtig, denn er hatte Angst, die Angreifer könnten ihn entdecken. Da sah er eine hohe Gestalt aus der Richtung der Breiten Gasse kommen, und Hoffnung stieg in ihm auf, sank aber gleich wieder in sich zusammen, denn der Mann war nicht Josef, konnte es nicht sein, er bewegte sich viel zu schnell, um Josef zu sein. Dann hob er unter dem Rennen den Kopf und blickte zum Dachbodenfenster der Altneuschul herauf und Jankels Herz pochte heftiger. Doch, es war Josef, auch wenn er nicht wiederzuerkennen war. Er rannte, seine Beine bewegten sich in einem schnellen, gleichmäßigen Rhythmus und jeder seiner Schritte war gleich lang.
    Und dann war er hinter der Altneuschul, zwischen den beiden Gruppen der Angreifer, die einen Moment verwundert innehielten und sich dann auf ihn stürzten. Josef stand so unerschütterlich da wie ein Fels, die Schläge der Feinde machten ihm nichts aus, er wehrte sie noch nicht einmal ab, er riss den Angreifern die Waffen aus den Händen und schleuderte sie weg, fort aus ihrer Reichweite, und immer wieder hob er Feinde hoch und warf sie zwischen ihre Kumpane, so beiläufig, wie man Holzscheite ins brennende Feuer wirft, und wenn ihn ein Stein traf, bückte er sich nur, hob ihn auf und schleuderte ihn auf den zurück, der ihn geworfen hatte. Jankel zwängte den Oberkörper durch die Luke, um nichts zu verpassen. Josefs Bewegungen waren noch immer seltsam ruckhaft, aber er vollführte sie so schnell, dass Jankel das Gefühl hatte, ihm würde schwindlig beim Zuschauen.
    Josef kämpfte unbeirrt, seine Fäuste trafen die Feinde, und immer wieder stürzten welche zu Boden und blieben

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