Golem stiller Bruder
liegen, auch als die Nachfolgenden auf sie traten, denn sie rückten nach, der Strom war nicht aufzuhalten, für jeden, der stürzte, kamen zehn neue nach und Josef wurde langsam, aber stetig weiter zurückgedrängt, zum Eingang der Synagoge, und die Rufe »Schlagt sie tot!« wurden immer lauter, immer blutrünstiger.
Jankel starrte hinunter auf das tosende Meer von Köpfen, ein Strudel, in dem sogar Josef irgendwann untergehen musste. Es waren so viele, so schrecklich viele. Wie lange konnte er sie noch davon abhalten, in die Synagoge einzudringen und ihre furchtbaren Rufe in die Tat umzusetzen? »Josef«, flüsterte Jankel, »Josef!«
In diesem Moment hörte er Pferdegetrappel und laute Stimmen, die sich deutlich von denen der Angreifer unterschieden. »Aufhören!«, riefen sie. »Im Namen des Kaisers!« Es dauerte lange, bis Jankel verstand, was geschah, aber er glaubte es erst, als er sie schon erkennen konnte, berittene kaiserliche Soldaten mit hoch erhobenen Lanzen, die in der Morgensonne blitzten. Sie kamen zum Schutz der Juden, sie kamen, um das Versprechen des Kaisers zu erfüllen. Jankel stand am Fenster, die Hände auf sein heftig klopfendes Herz gedrückt, er atmete keuchend und starrte auf das Bild, das sich ihm darbot, doch je länger er hinunterschaute, umso ruhiger wurde er.
»Aufhören!«, schrie ein Hauptmann, der Kommandeur der Soldaten. »Im Namen des Kaisers, hört sofort auf!«
Die Soldaten schwangen drohend ihre Lanzen. Sie ritten einfach hinein in die Menge, das Meer aus Köpfen teilte sich vor den sich aufbäumenden Pferden und machte ihnen Platz, bis sie hinter der Synagoge anhielten. Es wurde still. »Weg mit euch!«, schrie der Hauptmann. »Auf der Stelle! Im Namen des Kaisers, zieht ab und nehmt eure Spießgesellen mit!«
Ein Angreifer nach dem anderen wich zurück, manche krochen verletzt auf allen vieren davon, andere wurden von ihren Kumpanen gestützt. Sie schleppten auch jene mit, die auf dem Boden lagen, von denen Jankel nicht sehen konnte, ob sie nur verletzt waren oder tot. Das Schreien hatte aufgehört, eine gespenstische Stille breitete sich über der Judenstadt aus, und erst, als alle weg waren, sammelte der Hauptmann seine Soldaten und sie ritten davon.
Doch auch dann verging noch viel Zeit, ohne dass die Juden aus ihren Verstecken kamen. Josef stand unten auf dem Kampfplatz, mit hängenden Armen, inmitten von Stöcken und Keulen, von Steinen, abgerissenen Ärmeln, ein paar einzelnen Schuhen und Pferdeäpfeln, ein müder Held, der gar nicht mehr heldenhaft aussah. Dann drehte er sich um und ging davon, so langsam und schwerfällig wie immer.
Jankel wartete, alle schienen zu warten, die ganze Judenstadt schien noch immer die Luft anzuhalten. Die Ersten, die sich bewegten, waren die drei Juden im Baum, ungeschickt kletterten sie hinunter, strichen sich ihre Mäntel und ihre Bärte glatt und hoben die Hände zum Gebet.
Allmählich tauchten sie von überall her auf, Männer, Frauen und Kinder, sie strömten aus der Altneuschul und kamen aus ihren Häusern, sie krochen aus ihren Verstecken, sie schüttelten den Abfall von sich, und ihre Bewegungen, anfangs noch verhalten und vorsichtig, wurden freier und lebhafter, nur ihren Stimmen, mit denen sie den Herrn priesen und ihm für ihre Errettung dankten, war noch die Angst anzuhören.
Jankel ging hinüber zum Querbalken und zog die Gebetsmäntel von seiner Schwester. Rochele lag noch genauso da wie vorher, sie schaute ihn mit großen Augen an und Tränen rollten über ihre Wangen. Er hielt ihr die Hand hin und half ihr beim Aufstehen. Sie hörte nicht auf zu weinen, lautlos und ohne sich die Tränen abzuwischen. Er nahm sie auf den Arm, er küsste sie, er streichelte sie und sagte: »Es ist vorbei, es ist alles wieder gut!«
Sie nickte, und nach einer Weile fragte sie leise, als habe sie Angst vor der Antwort: »Ist Frume jetzt tot?«
Jankel drückte sie fest an sich. »Nein«, flüsterte er, »nein.« Und dann fragte er: »Soll ich dich zu Frume bringen? Ist es das, was du willst?«
Sie nickte und versuchte zu lächeln. Sie half ihm, die Falltür hochzuziehen und die Leiter hinunterzulassen, dann stiegen sie vom Dachboden hinab.
Hand in Hand verließen sie die Altneuschul. Sie gingen an Häusern vorbei, deren Türen und Fenster zerschlagen waren, an laut jammernden Frauen und Männern, die sich über verrenkte Körper beugten, und sie sahen eine Frau, die ein blutüberströmtes Kind auf den Armen hielt, mit dem Gesicht
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