Golem stiller Bruder
er starrte Rochele mit großen Augen an.
Da drehte sich Frume um und rief laut: »Rejsele, Surele, kommt, wir haben Besuch!« Ihre Töchter bogen um die Hausecke. Sie waren kaum größer als Rochele, und als ihre Mutter sie mit ihrer neuen Base bekannt gemacht hatte, boten sie sofort an, ihr das Zicklein zu zeigen, das erst vor ein paar Tagen auf die Welt gekommen war, und die Nachbarn hätten kleine Katzen …
Jankel beobachtete ungläubig und auch etwas enttäuscht, wie schnell seine kleine Schwester ihre Scheu verlor und wie fröhlich sie mit den beiden Mädchen, die sie doch gerade erst kennengelernt hatte, loslief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Frume führte sie ins Haus, dort lernte Jankel auch Jizchak kennen, den Toraschreiber, einen zierlichen Mann, kleiner als seine Frau, mit wilden schwarzen Locken, einem seidigen, schwarz gelockten Bart und ebenfalls schwarzen Augen. Jankel wunderte sich, Jizchak schien so gar nicht zu Frume zu passen, doch als er mit ihr sprach, war seine Stimme sanft und sein Blick war zärtlich. »Du hast recht entschieden, Frume«, sagte er. »Natürlich behalten wir das Kind. Gott segne dein gutes Herz.«
Später, als Jankel bereits die neue Hose angezogen hatte, die er mit einem Strick um die Mitte festhalten musste, und die Jacke, bei der er die Ärmel umschlug, war die Kleine schon bereit, im Haus des Toraschreibers zu bleiben, vor allem nachdem Frume ihr versichert hatte, sie könne ihren Bruder jeden Tag sehen. »Er kann abends herkommen«, sagte sie, »bevor du schlafen gehst.«
Auf dem Rückweg hielt Jankel den Kopf gesenkt, von seiner vorherigen Neugier war nichts mehr zu merken.
E s war Frumes Leib, der das Bild meiner Mutter in mir wachgerufen hatte.
An ihr Gesicht konnte ich mich nicht erinnern, das war im Lauf der Jahre zu einem blassen Fleck unter dunklen Haaren oder einem dunklen Kopftuch geworden. Überhaupt war die Erinnerung an sie verschwommen, als habe sich eine dichte Nebelwand vor die Bilder geschoben. Vielleicht lag es daran, dass mein Vater nie wieder über sie gesprochen hatte, kein Wort. Und auch am Jahrestag ihres Todes ging er immer allein zum Friedhof, noch nie hatte er mich mitgenommen. Selbst Tante Schejndl, die doch die ältere Schwester meiner Mutter war, war ausgewichen, wenn ich sie anfangs manchmal etwas gefragt hatte. »Deine Mutter, ihr Andenken gereiche uns zum Segen, war deinem Vater eine gute Frau und dir eine gute Mutter, sie möge in Frieden ruhen.« Mehr hatte sie nie gesagt, und mit der Zeit hatte ich aufgehört, nach meiner Mutter zu fragen oder über sie zu sprechen. Ich glaube, ich hatte sogar aufgehört, an sie zu denken.
Doch als Frume sich gereckt und ihre Hände auf ihren Leib gelegt hatte, war es wie ein Blitz gewesen, der die Nebelwand aufriss. Für einen Moment hatte ich meine Mutter vor mir gesehen, ganz klar und deutlich, wie sie in unserem Haus in Mo ř ina stand, sich reckte, die Schultern nach hinten schob, stöhnte und die Hände auf ihren schweren Leib legte. »Lauf zu Zunzi«, hatte sie mit verzerrtem Gesicht hervorgestoßen. »Lauf zu Zunzi, und sag ihr, es wird Zeit, meine schwere Stunde ist gekommen.« Das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört hatte: »Lauf zu Zunzi, und sag ihr, es wird Zeit, meine schwere Stunde ist gekommen.« Auch diese Worte hatte ich vergessen, erst als ich Frumes Hände auf ihrem Leib sah, waren sie mir wieder eingefallen, die letzten Worte, die meine Mutter zu mir gesagt hatte.
J ente legte den Arm um die Schulter des Jungen, aber er schob ihre Hand weg. »Warum bist du so traurig?«, fragte sie. »Deine Schwester ist doch nur ein paar Gassen von dir entfernt. Und du kannst sicher sein, dass Frume gut für sie sorgen wird. Sie hat ein Herz aus Gold, auch wenn sie ein bisschen laut ist. Du hättest keinen besseren Platz für deine Schwester finden können.«
Drüben, vor Reb Meisls Haus, hatten sich ein paar würdige Juden in schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten versammelt. Ihren ausladenden Handbewegungen war anzusehen, dass sie über irgendetwas disputierten. Einer, ein besonders hagerer mit einem grauen Bart, hob immer wieder die Hand zum Himmel, als wolle er den Ewigen zum Zeugen für seine Worte aufrufen.
Jankel wandte den Kopf ab und zog die Schultern hoch. »Erzähl mir doch von Reb Meisl und davon, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist«, bat er. Seine Stimme kippte.
»Nein«, sagte Jente, »der Hohe Rabbi würde es nicht wollen, er hält große
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