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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Stücke auf Reb Meisl und nennt ihn einen edlen Menschen, der seinesgleichen sucht. Die beiden sind zusammen im Ältestenrat, und er mag es gar nicht, wenn irgend welche Dinge über ihn erzählt werden. Lass ihm ja keine Gerüchte zu Ohren kommen. Und hüte dich vor allem vor Schmulik, dem Sohn meiner Schwester Riwke. Er ist seiner Mutter ein guter Sohn und brav und fleißig, aber er hat viel zu viel Fantasie, die Gedanken springen in seinem Kopf herum wie junge Lämmer auf der Weide, und keine Geschichte ist so unwahrscheinlich, dass er sie nicht sofort weitererzählt. Manchmal könnte man meinen, er wäre besessen, obwohl er ein guter Junge ist. Aber du darfst ihm nicht alles glauben, hörst du?«
    Jankel nickte. Schweigend gingen sie weiter. Aus einer Gasse drang das Brüllen einer Kuh, ein Aufbrüllen, das dem Jungen durch Mark und Bein ging. Er hob den Kopf und schaute Jente fragend an, und sie sagte: »Dort sind die jüdischen Fleischbänke.«
    Das verzweifelte Brüllen brach ebenso plötzlich wieder ab, doch der Junge behielt das Echo noch lange in den Ohren.

3. Kapitel
Ein fröhliches Herz
    J ente und der Junge waren auf dem Weg zu Mendel, dem Bäcker. Immer wieder trafen sie auf der Gasse fromme Männer mit gesenkten Köpfen, die Menschen, Fuhrwerken und Eselskarren auswichen. Sie gingen schnell, denn es steht geschrieben: Zum Hause des Herrn sollst du eiligen Schrittes gehen.
    Der Himmel über der Stadt war noch grau von der Nacht und die Judenstadt erwachte. Fensterläden wurden aufgeklappt, Holzriegel von Gewölbetüren entfernt. Lastenträger schleppten Kisten und Säcke zum Markt, andere stießen voll beladene Karren vor sich her oder ließen sie von einem Esel ziehen. Kaufleute bauten ihre Tische auf, ein Altkleiderhändler sortierte vor seinem Gewölbe Kleidungsstücke, ein anderer kehrte mit einem Reisigbesen den Schmutz vom Vor tag aus seinem Laden. Hausfrauen kippten den Inhalt von Eimern in die Gosse und verjagten Katzen, die in Abfall -haufen wühlten. Aus einer Garküche drang der Geruch nach heißem Fett, an einer Hauswand huschten zwei Ratten vorbei.
    Jente hatte wieder von Schmulik angefangen, dem Sohn ihrer Schwester Riwke, der einfach zu viel Fantasie habe. »Er war noch keine sechs Jahre alt«, erzählte sie, »da ist er, als meine Schwester gerade Wäsche aufhängte, weggelaufen, hinunter zur Moldau. Ein Fischer, der Ewige möge ihn und seine Nachkommen segnen, hat ihn aus dem Fluss gezogen und nach Hause gebracht. Aber Schmulik konnte nicht einfach zugeben, dass er ungehorsam und unvorsichtig gewesen und deshalb ins Wasser gefallen war, er erzählte eine haarsträubende Geschichte vom König der Flüsse, der ihn in seinen Palast mitgenommen und ihm seine Gärten voller Algen und Seerosen gezeigt hätte, und seine Gärtner wären Fische aus reinem Gold gewesen. Von dieser Geschichte ließ er sich durch nichts abbringen.«
    Jente seufzte, aber ihr Seufzer klang nicht echt, ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie diesen Schmulik liebte und stolz auf ihn war. Sie fuhr fort: »Er hat immer solche seltsamen Einfälle. Meine Schwester Riwke glaubt, dass daran nur der Geschichtenerzähler Schuld hat, der ab und zu in die Stadt kommt. Wenn er auftaucht, ist Schmulik nicht zu halten, so war es immer, auch als er noch klein war, man konnte ihn nur mit Gewalt von ihm wegholen. Natürlich hat ihm Riwke längst verboten, auch nur in die Nähe jenes Mannes zu kommen, aber was soll sie machen, sie kann ihn ja nicht zu Hause festbinden.« Sie seufzte noch einmal. »Der Junge ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe. Riwke ist jedenfalls sicher, dass es der Geschichtenerzähler ist, der Schmulik all diese Flausen in den Kopf gesetzt hat. Er ist ein buckliger alter Mann, der von einer jüdischen Siedlung zur nächsten zieht, vielleicht hast du ihn auch schon mal gehört.«
    »Ja, er war zwei- oder dreimal bei uns«, sagte Jankel. »Ich kann mich an eine ganz wundersame Geschichte erinnern, von einem Vogel Koreh, der vor langer Zeit in Mesopotamien lebte. Aus lauter Angst, dass ein räuberisches Tier sein ganzes Nest zerstören könnte, legte er seine Eier in fremde Nester, immer nur eines in jedes Nest, und ließ sie von fremden Vögeln ausbrüten. Wenn seine Küken groß und kräftig genug waren, flog er durch das Land und rief den Ruf, der seinen Jungen im Blut lag. Kaum dass sie ihn vernahmen, verließen sie die fremden Nester und folgten ihm, bis er sie alle um sich versammelt hatte. Ich fand

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